Dieses „Abendlied“ (1879) Gottfried Kellers stellt sich in die lange Reihe gleich überschriebener Gedichte, allen voran – und wohl auch unerreicht hinsichtlich Bekanntheit und Tiefe – Matthias Claudius' „Abendlied“. Die Botschaft freilich könnte unterschiedlicher nicht sein: Mündet Claudius' perspektivenreiches Gedicht in ein zuversichtliches Gebet, so schließt Kellers trauriges Abendlied mit der Aufforderung, sich intensiv dem Genuss der Welt hinzugeben. Das Bewusstsein der Endlichkeit und Todesnähe führt nicht zu Besinnung, Einkehr oder wenigstens zu Frage oder Verzweiflung, sondern in einer fast gewaltsamen Wendung zu einem Aufruf zu intensiverer Weltzuwendung.
Literatur
Gottfried Keller: Beinahe kritiklos in den Atheismus geraten
Endlichkeit und Weltfrömmigkeit entfernten ihn vom Glauben – Zum 125. Todestag des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller. Von Gudrun Trausmuth