Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Buchrezension

Ein wacher Albtraum

Der Gipfel des „Wokeismus“ scheint überschritten zu sein. Doch vorbei ist es damit noch nicht – vor allem in der Kulturpolitik, die ein neuer Sammelband kritisch beleuchtet.
Remembering George Floyd killed by Minneapolis police
Foto: IMAGO/Julien Benjamin Guillaume Mattia (www.imago-images.de) | Auch die "Black Lives Matter"-Bewegung ist ein Kind des Wokeismus.

Der neue Kulturkampf, der nicht nur gegen das Christentum, sondern auch gegen alles, was es zivilisatorisch ermöglicht hat, Front macht, steht unter dem Stichwort „woke“. Das Wort aus dem Slang der Afroamerikaner bedeutet, dass jemand sich für „aufgeweckt“ oder „wachsam“ hält und daher das Recht beansprucht, gegen Diskriminierungen aller Art zu streiten. In welcher Tradition dieser Kampfbegriff steht und wie er als Waffe insbesondere im Kulturbetrieb eingesetzt wird, klärt ein aufschlussreicher Sammelband, den der Philosoph und Autor Alexander Ulfig herausgegeben hat.

Der Mechanismus, der dem woken Denken zugrunde liegt, ist recht einfach: Es geht um Opfergruppen und Tätergruppen, wie der Herausgeber im Vorwort erklärt. Das Besondere ist, dass die Opfergruppen sich selber dazu erklären können – sie sind ja aufgeweckt, eben „woke“ –, während sich als Tätergruppe Nummer eins der „weiße Mann“ anbietet. Im Ablauf muss das Leid der Opfer zunächst öffentlich beklagt werden, während ihnen in der Folge Wiedergutmachung zusteht. Förderprogramme können zu gut bezahlten Arbeitsstellen führen, Gleichstellungsgesetze garantieren feste Quoten und verfestigen zugleich die Opfer-Repräsentation. Der Publizist Gunnar Kunz erklärt: „Die Opferrolle ist nicht nur bequem, sondern erhöht zugleich“ – im Tugend-Wettlauf.

Eine Bibliothek, die auf sich hält, braucht heute ein „Queeres Wohnzimmer“

Woke Politik im engeren Sinn des Wortes wird heute unter dem Begriff „Diversity“ betrieben, ohne Englisch geht es also nicht! „Diversity“ meint, dass alle Minderheitengruppen positiv zu würdigen seien, ob in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter, Behinderungen, Weltanschauung oder sexuelle Orientierung und so weiter. In allen Bereichen der Gesellschaft, insbesondere aber im kulturellen Sektor, soll über eine vorgeschriebene Sprach- und Handlungskontrolle sichergestellt werden, dass die relevanten Gruppen „vorkommen“. Eine Bibliothek, die auf sich hält, braucht heute ein „Queeres Wohnzimmer“, so Uwe Jochum. Kein auch nur mittelgroßes Unternehmen kann es sich leisten, ohne einen hauptamtlichen „Diversity Officer“ auszukommen.

Wer vehement für etwas ist, muss auch gegen etwas sein. Auf den Kulturbereich bezogen, nennt Ulfig als Feindbilder die traditionelle Hochkultur, ebenso die Auffassung, dass ohne den europäischen Beitrag von dieser nicht gesprochen werden kann und – wieder einmal – den alten weißen Mann als Kulturträger. „Oikophobie“ nennt es der Autor, wenn die eigene Kulturlinie schlechtgemacht, diejenige fremder Kulturen dagegen gepriesen wird.

Spiegelbildlich ergibt sich daraus notwendig eine „Cancel Culture“, die das als unnötig und verboten brandmarken will, was der Herrschaft der neuen Minderheiten entgegensteht. Andere Auffassungen dürfen einfach nicht mehr vorkommen, werden ignoriert und totgeschwiegen. Männer sollen nicht mehr über Frauen reden dürfen, Weiße nicht mehr über Schwarze, Hetero- über Homosexuelle und so weiter. Es kommen, wiederum zuerst aus den USA, die Forderungen, dass auch nur Vertreter der jeweiligen Gruppe auf der Bühne und in Filmen ihresgleichen verkörpern dürfen, dass etwa bei Konzerten zwingend Musik von afroamerikanischen Komponisten zu spielen sei.

Ein echter Kulturkampf

Man merkt schon: Hier wird mit rauen Bandagen gekämpft, es ist ein echter Kulturkampf, bei dem es nicht um friedliche Koexistenz geht. Till Kinzel präzisiert in seinem Beitrag, wie die in den USA der 60er-Jahre entstandene Gesellschaftskritik, der wir all das verdanken, letztlich marxistische Wurzeln hat, vermittelt über die Frankfurter Schule und Herbert Marcuse, während der neue Multikulturalismus das Produkt einer von Nietzsche inspirierten Postmoderne sei. Es verlagert sich dabei das Schlachtfeld von der ökonomischen Dimension auf die Frage der Identität, die, gut marxistisch, nur als Gruppe oder Klasse denkbar ist. Ergebnis sei ein Tugendterror, so Kinzel, ähnlich dem des Robespierre im 18. Jahrhundert. Eine plural verstandene geistige Freiheit wird für ungehörig erklärt, verstößt gegen die „political correctness“. Es gehört eben zum Wesen einer solchen Ideologie, dass sie nur sich selber kennen will.

Michael Esfeld macht darauf aufmerksam, dass für die Angestellten der Universität Berkeley eine Klausel im Arbeitsvertrag obligatorisch ist: Wer gegen „Diversity, Equity, Inclusion“ (DEI) ist, hat schlechte Karten. (In den 50er-Jahren, zur Zeit von McCarthy, musste man erklären, dass man nicht Kommunist ist.) Esfeld, Professor in Lausanne, beobachtet, dass auch in seinem Fachgebiet der Philosophie Diversitätskriterien Einzug halten: Unglücklicherweise sind im Kanon seiner Wissenschaft zu viele europäische und nordamerikanische Denker unterwegs, die dazu häufig auch noch weiß, männlich und christlich sind, nun aber brauche es anderes als „heteronormative“ und „eurozentrische“ Positionen.

Es ist immer derselbe Ablauf: Man nimmt Anstoß am Bestehenden und will es ersetzen durch etwas Anderes, dessen Qualitätskriterium zunächst nur das Anderssein ist. Dabei müsse sich das geschmähte Alte gar nicht verstecken, sagt Esfeld: Die bestehende, auf jüdisch-christlicher Grundlage geschaffene westliche Zivilisation habe die Sklaverei abgeschafft, den Menschenrechten Geltung verschafft, durch Wissenschaft und Fortschritt und die Ermöglichung persönlicher Freiheit zu einer breiten Hebung des Lebensstandards geführt. Welche Ironie, dass gerade die Verfechter der neuen Unduldsamkeit von dem, was sie überwinden wollen, profitieren.

Alle Bereiche sind betroffen

Der Marxist Gramsci, darauf weist der Musikwissenschaftler Tom Sora hin, propagierte Hegemonie durch Propaganda und träumte von einer proletarischen Kultur. Das nahm die Frankfurter Schule auf, um die bürgerliche Kultur als herrschaftsstabilisierend zu enttarnen. „Aufdecken“ und „Hinterfragen“ seien nun angesagt. Foucault und Derrida gingen noch weiter, stellten fest, dass das Denken an sich „imperialistisch“ sei und forderten dessen Dekonstruktion zur Zerstörung des westlichen „Logozentrismus“. All diesen Ansätzen gemeinsam ist die radikale Ablehnung von Autorität, unabhängig davon, dass, wer so denkt, sich selbst zur Autorität macht. Der falsche, sich – in der Regel zu Unrecht – auf Kant berufende Freiheitsbegriff – Kern im Denken des deutschen Synodalen Weges – ist hier gleichfalls grundgelegt.

Für die verschiedenen Sektoren des Kulturbetriebs weist Adorján Kovács nach, wie das neue Denken umgesetzt wird – Disney-Filme einst und jetzt, ein Tolstoj, der auf seine Frau reduziert wird, ein kunsthistorisches Seminar, das behauptet, „Impressionismus ist weiblich“ – und worin die neue Rolle des Künstlers gesehen wird: „Er wird zur Stütze des Egalitarismus“.

Alle Bereiche sind betroffen. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schied 2022 in Katar zwar schon in der Vorrunde aus, wurde aber von der damaligen Innenministerin Faeser mit Regenbogen-Armbinde begleitet – geholfen hat es nicht. Birgit Kelle, die Publizistin, erinnert sich an früher: „Nur der Mannschafts-Kapitän trug auf dem Platz eine Armbinde (…). Fußball war eine Sportart und Stadien waren keine Bekenntnisanstalten.“ Der Fußballer kniete nur nieder, um sich die Schuhbänder zu richten. Die neue Korrektheit muss sich ständig ihrer selbst vergewissern, ihre Unsicherheit durch ostentatives Bekenntnis kaschieren.

Dieser Band zeigt an vielen Beispielen auf, wie über die woke Agenda unsere Gesellschaft umgestaltet und der Herrschaft schriller Minderheiten unterworfen werden soll. Die Mechanismen, nach denen dies geschieht, aufzudecken, ist der erste Schritt zur Abwehr.

Alexander Ulfig (Hrsg.), Woke Kulturpolitik, Ursprünge - Erscheinungsformen - Auswirkungen, Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag, 2025, 151 Seiten, Softcover, EUR 19,95


Der Rezensent gehört dem Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg an.

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Urs Buhlmann Birgit Kelle Friedrich Nietzsche Gesellschaftskritik Herbert Marcuse Immanuel Kant Minderheiten

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