Der Berliner Verlag Galiani zitiert zu Recht aus einer Rezension der belgischen Originalausgabe, die Toon Horstens Bericht über die Rettung des Archivs eines der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts als „vergleichbar mit einem Roman von Umberto Eco“ einstuft, „nur, dass sie wirklich passiert ist“. Die belgische Zeitung verweist noch auf Dan Brown, doch das ist abwegig, denn es geht hier nicht um Leichtgewichte. Vielleicht denkt man aber auch in der Tonlage etwas an Casablanca.
Im Zentrum von Toon Horstens Bericht steht nämlich das Archiv des Philosophen Edmund Husserl. Husserls Phänomenologie hat nicht nur die entscheidenden Anregungen für Martin Heidegger und Edith Stein gegeben, sondern auch Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith, Roman Ingarden und vor allem die neuere französische Philosophie beeinflusst. Das Denken von Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Emmanuel Levinas, Michel Foucault, Louis Althusser, Jean-Francois Lyotard, Gilles Deuleuze, Roland Barthes und von Jacques Derrida wäre ohne Husserls Einfluss schwer vorstellbar. Letzterer hat extra Deutsch gelernt, um Husserl lesen zu können. Im März 1954 reiste der junge Philosoph nach Löwen, zum ersten Mal in seinem Leben ins Ausland, um im Husserl Archiv zu arbeiten. Der Ertrag dieser Wochen, die er mit großem Fleiß auf dem Speicher des Philosophischen Instituts der Universität zu Löwen verbrachte, war gewaltig, auch für die Karriere des jungen Mannes. Nicht nur, dass er Husserls Text ins Französische übersetzte, versah er den Text zudem mit einer Einleitung unter dem Titel „Das Problem der Genese in Husserls Philosophie“, die den ursprünglichen Text deutlich an Länge übertraf – und letztlich eine erste Selbstverständigung des jungen Philosophen darstellte.
Das Archiv in Sicherheit bringen
Doch wie kommt das Archiv des Freiburger Ordinarius Edmund Husserl nach Belgien? Wieso wird der Nachlass in Löwen betreut und nicht in Freiburg? Mit dieser Frage rührt man an eine faszinierende Geschichte, die in ihrer ganzen Dramatik erst von Toon Horsten in einer akribischen Recherche aufgehellt wurde. Edmund Husserl revolutionierte die Philosophie im beginnenden 20. Jahrhundert durch seine Phänomenologie. Die bedeutende Philosophin Edith Stein war nicht nur Husserls persönliche Assistentin, sondern er betreute auch ihre Doktorarbeit. Martin Heidegger folgte 1919 Edith Stein als Husserls persönlicher Assistent und wurde zu dessen engem Vertrauten. Heidegger widmete das Werk, das seinen Ruhm begründete, „Sein und Zeit“, seinem Lehrer Edmund Husserl „in dankbarer Verehrung und Freundschaft“. Später, nach 1933, sollte Heidegger die „Verehrung und Freundschaft“ vergessen und die Dankbarkeit ohnehin.
Mit Blick auf sein Alter bat Husserl um seine Emeritierung und hielt seine letzte Vorlesung am 25. Juli 1928. Mit dem Erlass der „Nürnberger Rassegesetze“ 1936 verlor Edmund Husserl, der vom Judentum zum Luthertum konvertiert war, die Lehrbefugnis. Vereinsamt starb der Philosoph am 27. April 1938. Heidegger, der den Freund und Lehrer mied, fehlte auch auf dessen Beerdigung, einzig Gerhard Ritter erwies dem großen Philosophen die letzte Ehre. Edith Stein, die zu diesem Zeitpunkt nicht nur zum Katholizismus konvertiert war, sondern bereits als Nonne im Karmel Maria vom Frieden in Köln unter dem Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce lebte, konnte, gefährdet wie sie war, aus mehreren Gründen die Reise nach Freiburg nicht antreten. Noch im selben Jahr siedelte sie ins Kloster ins niederländische Echt über.
„Sein Hauptverdienst besteht jedoch darin,
diese wichtige Geschichte, die von der Rettung
unseres kulturellen Gedächtnisses handelt,
dokumentiert zu haben“
Das Problem, das sich immer dringender stellte und das von Husserls achtzigjährige Witwe Malvine nicht zu lösen war, bestand darin, das in Deutschland extrem gefährdete Archiv, in dem sich der größte Teil der Husserlschen Philosophie noch unveröffentlicht in handschriftlichen Notizen befand, in Sicherheit zu bringen. Doch von wem und wohin? Vor allem, wie ließ sich ein so großer Textbestand an den Nationalsozialisten vorbei ins Ausland transferieren. Erschwerend kam hinzu, dass die Zeichen der Zeit auf Krieg standen.
In dieser hoffnungslosen Situation klopfte am 29. August 1938 ein junger, belgischer Mönch, Pater Hermann Leo van Breda, der sich zuvor brieflich angekündigt hatte, wie ein rettender Engel an die Tür von Malvine Husserls Haus. Van Breda war ein begeisterter Philosoph, der über Husserls Spätwerk in Löwen promoviert werden wollte. Aber er war auch ein sehr bodenständiger und tatkräftiger Mann von 35 Jahren. In Freiburg eröffnete sich ihm eine Arbeit, die auch seinen Optimismus und Tatendrang zu überfordern drohte. Was in jenen Augusttagen ihm von Malvine Husserl und Eugen Fink, Husserls letztem Assistenten, offeriert wurde, waren etwa 40 000 Seiten mit handschriftlichen Notizen und etwa 10 000 Seiten, die entweder handschriftlich oder bereits maschinenschriftlich von Edith Stein, Ludwig Landgrebe und Eugen Fink transkribiert worden waren. Auf welch abenteuerlichen und teils atemberaubenden Wegen dieses Archiv durch Pater van Breda nach Löwen geschmuggelt wurde und dort die Kriegszeit unter deutscher Besatzung überstanden hatte, wie es zur weiteren Entzifferung und Publikation kam, erzählt das Buch auf spannende und anschauliche Weise. Hierüber soll – wie bei einem guten Krimi – nichts verraten werden.
Licht und Schatten
Es ist Toon Horstens Verdienst, diese Geschichte durch vorbildliche Recherche dem Vergessen entrissen und durch eine verständliche und plastische Erzählweise einem großen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Obwohl Horsten aus der Perspektive seiner Hauptfigur, die zudem ein Verwandter von ihm war, berichtet, bemüht er sich um eine kritische Distanz, bei allem Licht auch nicht die Schatten zu verbergen. Horsten gibt, indem er die Geschichte erzählt, wichtige Anregungen, die zu verfolgen sind. Über Edith Stein, die van Breda nach eigenen Angaben versuchte zu retten, indem er sie in Löwen oder in der Umgebung von Löwen zu verstecken gedachte, was sie aber ablehnte, sagte van Breda: „Edith Stein war von dem Wunsch besessen, sich für ihr Volk dem Holocaust zu opfern.“
Gleichzeitig wissen wir jedoch, dass Edith Stein versuchte, ein Visum für die Schweiz zu bekommen, das sie auch am 9. September erhielt, einen Monat nach ihrer Ermordung in Auschwitz. In van Bredas Schilderung und in Edith Steins Bemühungen um Visa für ihre Schwester und für sich besteht ein gewisser Widerspruch, dem ich nachzugehen gedenke.
Kulturelles Gedächtnis gerettet
Insofern ist Horstens Buch in vielerlei Hinsicht anregend. Sein Hauptverdienst besteht jedoch darin, diese wichtige Geschichte, die von der Rettung unseres kulturellen Gedächtnisses handelt, dokumentiert zu haben, gerade zu einer Zeit, in der unser kulturelles Gedächtnis von anderer Seite durch das Aufleben eines mächtigen Revisionismus bedroht wird.
Toon Horsten: Der Pater und der Philosoph. Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis.
Galiani, Berlin 2021, 287 Seiten, EUR 24,–, ISBN 978-3-462-30314-8
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