Lebensläufe

Der Weg zum Grundverständnis des Seins

Annährungen an das Leben und Werk von Edith Stein  
Porträt von Edith Stein in der Maximilian-Kolbe-Kirche
Foto: Wolfgang Radtke (KNA) | Porträt von Edith Stein in der Maximilian-Kolbe-Kirche in Oswiecim am 30. November 2002.

Man sollte denken, die Biographie einer der bekanntesten weiblichen Denkerinnen (und Heiligen) des 20. Jahrhunderts zu schreiben, sei eine letztlich eher unproblematische Aufgabe: Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten ist nicht nur der historische und kulturelle Kontext bis in die kleinsten Details bekannt, sondern auch die Quellenlage zu Leben und Werk Edith Steins ist recht gut, da wir neben ihren Werken auch über viele Briefe, autobiographische Aufzeichnungen und natürlich Aussagen ihrer Mitmenschen verfügen. Und doch – letztlich bleibt vieles, dabei vor allem das Wesentliche, im Dunklen.

Dies liegt nicht so sehr am Abbrechen von Steins Lebenserinnerungen gerade an der Stelle, wo wir am liebsten über sie verfügen würden, sondern eher am Charakter der Protagonistin selbst: Eine zutiefst rationale und auf Schutz ihrer Privatsphäre bedachte Denkerin, macht sie es dem Biographen paradoxerweise gerade dort am schwierigsten, wo sie ihre privatesten Lebensentscheidungen wortreich und präzise beschreibt. Denn so eingängig, ehrlich und logisch ihre Ausführungen auch scheinen mögen und wohl auch sein wollen, so offensichtlich sind sie doch von dem Wunsch geprägt, ihrem tiefsten Inneren den Schutz kühler Folgerichtigkeit vorzublenden und jeglichen Kontrollverlust bei der Selbstdarstellung zu vermeiden. So bleibt das Eigentliche ein Geheimnis.

„ Mai gelingt es durchweg, Steins jüdische Herkunft,
den politischen und kulturellen Kontext der verschiedenen Stätten ihres Wirkens,
ihre philosophiegeschichtliche Einordnung und natürlich auch ihre Bedeutung
innerhalb der katholischen Geistesgeschichte immer wieder elegant
mit den Etappen ihres Lebens in Verbindung zu bringen“

Es gehört sicherlich zu den Verdiensten der neuen Biographie der Heiligen aus der Feder des Publizisten Klaus-Rüdiger Mai, sich nicht allein deskriptiv mit dem Leben und Werk Edith Steins auseinanderzusetzen, sondern auch zu versuchen, ihrer "wahren" Persönlichkeit in all ihrer Verletztlichkeit nachzuspüren   wenn auch innerhalb der von Stein selbst gesetzten, nicht zuletzt für den Biographen frustrierenden Grenzen. Zu dieser ersten, gewissermaßen quellenimmanenten Problematik kommt eine zweite:

Mai ist bislang vor allem als Kenner von Spätmittelalter und früher Neuzeit hervorgetreten und trotz seiner Faszination für die italienische Renaissance doch wesentlich ein Spezialist für die Reformation und ihr geistiges Umfeld, was, wie der Autor selbst in einem hochinteressanten, sehr persönlich gehaltenen Nachwort hervorhebt, tief mit seinem eigenen lutheranischen Bekenntnis zusammenhängt. Die Geschichte der Konversion Steins zum Katholizismus, ihrer "Ankunft", ist in diesem Kontext für Mai auch im wörtlichen Sinne ein Stein des Anstoßes, dessen ultimative Beweggründe jenseits des rein philosophischen Strebens für den Autor ein echtes Faszinosum darstellen und dementsprechend letztlich auch eher von "außen" beschrieben als von innen "nachempfunden" werden.

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Ein Ringen zwischen dem Biographen und seinem Objekt der Beobachtung 

So schreibt der Biograph: "Sie hat mir in der Arbeit viel, sehr viel, abverlangt. Zuweilen kam es zu regelrechten Streitgesprächen, die die abgeklärte Haltung des Biografen für gewöhnlich nicht zulässt, vor allem dann, wenn der Biograf Edith Steins Konversion nicht von vornherein als das größte Ereignis im Leben eines Menschen versteht, weil er zwar den Katholizismus sehr achtet, aber nicht katholisch ist und auch nicht gedenkt, katholisch zu werden. Das meint mehr als Religion, das meint Welthaltung, Grundverständnis des Seins."

Und man sieht es der Biographie auch an, jenes Ringen um die persönliche Nachvollziehbarkeit der inneren Entwicklung der Heiligen   immer wieder tritt der Biograph hinter die Person Mai zurück und beschreibt seine Frustration bei der Suche nach Antwort auf Steins Entscheidungen – eine Frustration, deren Verbalisierung aber gleichzeitig auch den inneren Reichtum jener Biographie darstellt, die immer wieder zum lebendigen Dialog zwischen Stein und ihrem Biographen wird, liegt doch in der Tat, wie Mai selbst schreibt, "in der Distanz ein großer Vorteil".

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Katholizismus als ultimative Antwort auf die Seins-Frage

Nachdem eine Einleitung einige allgemeine Überlegungen zur Bedeutung der Heiligen nicht nur im Rahmen der Gräuel des 20., sondern auch der Umstände des 21. Jahrhunderts anstellt, folgt der Text grob den verschiedenen Etappen ihres Lebens: Von der Jugend in Breslau und der Studienzeit in Göttingen und Freiburg über die Assistentur bei Husserl und den zunehmenden Drang nach einer Letztbegründung der phänomenologischen Methode bis hin zur Entdeckung des Katholizismus als der ultimativen Antwort auf die philosophischen (und Seins-)Fragen Edith Steins, der sich hieraus ergebenden Tätigkeit im Dienst der Kirche und schließlich dem Eintritt in den Karmel und das Martyrium in Auschwitz entwickelt sich ein reiches Bild nicht nur des Lebens der Edith Stein, sondern auch ihrer Zeit.

Denn Mai vermag es sehr geschickt, die verschiedenen Ebenen der Lebensdarstellung auszubalancieren, um ein ausgeglichenes und nie langweiliges oder gar pedantisches Bild seines Themas zu entwerfen – ein Unterfangen, das nicht einfacher gemacht wird durch die für den Leser manchmal sperrige, aber biographisch fundamentale Bedeutung von Husserls Phänomenologie als einem der Grundmotive des Lebenslaufs Edith Steins und letztlichem Anlass für ihre Konversion zum Katholizismus. Mai gelingt es durchweg, Steins jüdische Herkunft, den politischen und kulturellen Kontext der verschiedenen Stätten ihres Wirkens, ihre philosophiegeschichtliche Einordnung und natürlich auch ihre Bedeutung innerhalb der katholischen Geistesgeschichte immer wieder elegant mit den Etappen ihres Lebens in Verbindung zu bringen und ein sehr lebendiges Bild zu entwerfen.

Gut ausbalanciert und ausgewogen geschrieben

Und wenn man sich am Ende des Buches auch im Rückblick sehr oft "mehr" gewünscht hätte, muss man doch erstaunt feststellen, dass dieses "mehr" sich auf alle Domänen gleichermaßen erstreckt ("mehr" über das liberale Judentum in Breslau, "mehr" über die Phänomenologie, "mehr" über die Ausstrahlung des Katholizismus in der Zwischenkriegszeit, "mehr" über Steins Werk, "mehr" über das monastische Leben, etc.), was letztlich nichts anderes bedeutet, als dass es Mai gelungen ist, ein ungewöhnlich gut ausbalanciertes und ausgezeichnet geschriebenes Buch zu verfassen – und letztlich beim Leser den Wunsch zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Thema zu wecken: das ultimative Ziel einer jeden Biographie.

Nur ein kleiner Wermutstropfen trübt ein wenig dieses Elogium: Das Buch bricht mit dem Tod der Protagonistin im KZ Auschwitz ab – denn "Abbruch" muss es in Anbetracht des reichen Nachlebens genannt werden, und eben nicht "Ende": Nicht nur die wissenschaftliche Rezeption Steins, sondern auch und vor allem ihre spirituelle Bedeutung im Rahmen der verschiedenen Etappen der Heiligsprechung sowie der Aussöhnung zwischen Juden- und Christentum im Angesicht der Schrecken des Nationalsozialismus wird man leider vergebens suchen. 


Klaus-Rüdiger Mai: Edith Stein – Geschichte einer Ankunft:
Leben und Denken der Philosophin, Märtyrerin und Heiligen.
Kösel Verlag 2022, 352 Seiten, ISBN-13:  978-346637-271-3, EUR 22, 

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