Am Anfang steht die Frage: „Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden?“ Die vor gut zwei Jahren ausgebrochene Pandemie mit ihren restriktiven Maßnahmen bestärkte die 63-jährige Wiener Publizistin und Philosophin Isolde Charim in ihrem Vorhaben, dem Phänomen einer „freiwilligen Unterwerfung“ nachzugehen. Geschieht dies aus Angst vor Strafen? Oder aus vernünftigen Erwägungen heraus? Gerade zu Beginn der Pandemie änderten sich die medizinischen Erkenntnisse und damit die Forderungen der Politik an die Bevölkerung ständig – was schützt und was nicht? Häufiges Händewaschen, Masken, Impfungen ja oder nein, Kontaktverbote bis zu Schließungen von Geschäften und Veranstaltungsorten, zunächst als sinnvoll erachtet, dann wieder nicht – wir erinnern uns. Und die meisten Menschen haben sich, wenn auch nicht gerade freudig, so doch willig den verordneten Verhaltenseinschränkungen gefügt.
Das Interesse der Autorin gilt der Freiwilligkeit dieser Fügsamkeit. Sie fragt mit Baruch de Spinoza (1632–1677): Wie kommt es, dass „die Menschen für ihre Knechtschaft kämpfen, als sei es für ihr Heil“? – sofern das Ringen um das Leben wirklich Knechtschaft bedeutet. Eine Frage, der gerade in Krisenzeiten eine besondere Relevanz zukommt.
„Die beeindruckenden herangezogenen Werke demonstrieren nicht nur
die immer wiederkehrende Auseinandersetzung bedeutender Autoren
mit einem gerade sehr aktuellen Thema, sie regen auch an,
die Denker vergangener und heutiger Zeit neu oder wieder zu entdecken“
Isolde Charim sieht die Antwort im menschlichen Narzissmus, wie wir gleich zu Beginn ihrer Abhandlung erfahren. „Es ist der Narzissmus, der Narzissmus als gesellschaftliche Forderung an jeden Einzelnen: Du musst mehr werden, als du bist, du musst zu deinem Ideal werden.“ Und sie zieht zur Begründung ihrer These bedeutende Philosophen und Psychologen heran, die sich über Jahrhunderte mit dem Thema befasst haben, wenn auch mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen: Étienne de la Boétie (1530–1563), ein Freund Michel de Montaignes, kam zu dem Ergebnis, dass Tyrannen nur möglich sind, solange sich Viele in die freiwillige Knechtschaft begeben anstatt sich kollektiv zu widersetzen.
Spinoza sieht die als „Heil“ empfundene Unterwerfung unter einen Monarchen darin, dass Menschen ihren König mit Gott verwechseln, den sie nicht als abstrakt wahrnehmen, sondern personalisieren (die Vorstellung des gütigen alten Mannes mit Bart), der dadurch fassbar wird und nur so geliebt und angebetet werden kann.
Wenn Menschen ihr Wollen vergöttlichen und in einer Person manifestiert sehen
Louis Althusser (1918–1990) bezeichnete das persönliche Verhältnis des Menschen zu Gott oder einer Autorität, das im Zentrum der freiwilligen Unterwerfung steht, als „Anrufung“, einem religiös konnotierten Begriff, der voraussetzt, dass der Anrufende davon ausgeht, dass er als Individuum von der höheren Macht wahrgenommen wird, dass er ganz persönlich gemeint ist. Und nur in dieser Weise, als Subjekt, funktioniert der handelnde Mensch als gesellschaftliches, sich anpassendes Wesen.
Das ganz Persönliche bringt die Autorin zum Narzissmus, der nicht gleichzusetzen ist mit Egoismus, es handelt sich eher um Gegensätze – wobei der Egoismus als eine aggressive, selbstgewisse Eigenliebe verstanden wird. „Im Narzissmus (hingegen) geht es nicht um eine wie auch immer geartete Verwirklichung des Ichs, sondern um ein Über-sich-hinaus-Gehen.“
Anerkennung aus dem sozialen Umfeld belohnt Narzissten
Hier kommt Sigmund Freud (1856–1939) ins Spiel, denn der Begriff des Narzissmus ist ein psychoanalytischer, auch wenn er in diesem Fall nicht als pathologischer Defekt verstanden werden soll. Laut Freud ist der Narzissmus ein Trieb mit einer eigenen nichtsexuellen Energie, die im Gegensatz zum Sexualtrieb nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet ist. Narzissmus als Sehnsucht und Suche nach einem verlorengegangenen Zustand der frühesten Kindheit, dem Ideal eines Einsseins mit der Umgebung. Das Ideal, das (so Freud), dem Ich von außen zukommt, wird also zum Ersatz für das Ich, das bisher im Zentrum stand.
Das Kind genügt sich selbst, der Narzissmus des Erwachsenen tritt in Kontakt mit den Anforderungen der Außenwelt: „Das Ich-Ideal fügt so das Intimste mit dem Äußerlichen der gesellschaftlichen Vorstellungen und Forderungen zusammen.“ In unserer Zeit nähert man sich dem Ich-Ideal mit Selbstoptimierung, immer in dem Glauben, dass ein ideales Ich erreichbar sei, wenn man nur genügend trainiert, Diät hält, sich fortbildet oder an seiner Schönheit arbeitet.
Der herrschende Zeitgeist basiert großenteils auf hausgemachter Moral
Dem Ich-Ideal zu entsprechen, vollkommen zu werden, verspricht Anerkennung und Teil eines Ganzen zu werden. Dazu benötigen wir heute, nach dem Verlust früher selbstverständlicher moralischer Gebote, Regeln – die allerdings häufig einer „hausgemachten“ Moral entspringen und von anderen akzeptiert zu werden haben, wie es in den immer zahlreicher werdenden sektiererisch anmutenden Gruppen praktiziert wird, die mit der Formel LGBTI begannen, dann zu LGBTI* und LGBTQIA+ mutierten, womit signalisiert wird, dass alle weiteren Gruppen und Bestimmungen mitgemeint sind – ein Zeichen für die unerreichbare Konkretheit.
Die „Anderen“ im gesellschaftlichen Zusammenhang werden darauf beschränkt, der eigenen Selbst-Identifikation zuzustimmen: „Der Andere muss meine Vorgaben anerkennen, selbst wenn diese seiner Wahrnehmung widersprechen. Er muss mich etwa als Mann akzeptieren, wenn ich mich als solcher bestimme – selbst wenn dies seiner Wahrnehmung nicht entspricht. (...) Der Grundsatz lautet: Es steht niemandem zu, diese Identifizierung in Frage zu stellen.“
Anspruchsvoll, aber leicht zu lesen
Da hatte es Ludwig Feuerbach (1804–1872) doch einfacher: in seiner Religionskritik erkennt er „Gott ist der Spiegel des Menschen“, aber was sich in Gott spiegelt, ist nicht der unzulängliche Mensch, sondern eben der Mensch in seiner idealisierten Vollkommenheit. Als Spiegelbild ist Gott der „Inbegriff aller menschlichen Vollkommenheit.“
Isolde Charim hat mit ihrem Buch eine anspruchsvolle wissenschaftliche Arbeit vorgelegt, die sich dennoch gut lesen lässt und ihren klugen Denkprozess nachvollziehbar macht, den sie auch immer wieder erläutert. Sie wertet nicht, sondern beschreibt angenehm sachlich und unaufgeregt ihre Wahrnehmungen. Die beeindruckenden herangezogenen Werke demonstrieren nicht nur die immer wiederkehrende Auseinandersetzung bedeutender Autoren mit einem gerade sehr aktuellen Thema, sie regen auch an, die Denker vergangener und heutiger Zeit neu oder wieder zu entdecken – und in unserer krisengeschüttelten Zeit Erklärung und Trost zu finden. Vielleicht auch mit dem Fazit der Autorin: „Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse.“ Und die Leser schauen nach der Lektüre mit etwas klarerem Blick auf unsere Welt.
Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung.
Zsolnay Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, EUR 24,–
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