Am 2. September 1973 starb der englische Schriftsteller und Philologe John Ronald Reuel Tolkien im Alter von 81 Jahren. Zehn Jahre später hielt ich den „Herrn der Ringe“ das erste Mal in der Hand. Während eines Wachdienstes bei der Bundeswehr begann ich, die ersten Kapitel zu verschlingen, bis ich um vier Uhr früh zu Tom Bombadils Haus kam und mich ein plötzlicher Alarm jäh herausriss.
Ein Übungsalarm für mich. Für den jungen Leutnant Tolkien bittere Realität, als er 1916 in eine der blutigsten Schlachten des ersten Weltkriegs geworfen wird. Die Katastrophe der Schlacht an der Somme ist unvorstellbar: Allein am ersten Tag fallen 20 000 britische Soldaten. Als Tolkien Ende desselben Jahres mit einem hartnäckigen Fieber zurück nach England kommt, sind seine engsten Freunde bis auf einen gefallen. In den Monaten an der Front hat er „Mordor“, das Land der Verwüstung, kennengelernt.
Das Altenglische war zentral für sein späteres Leben
Bis hierher ist Tolkiens Leben bereits durch bittere Verluste geprägt: Verlust der frühesten Heimat in Südafrika, Tod des Vaters im Jahr 1895 – Tolkien ist gerade drei Jahre alt. Für ihn und seinen Bruder Hilary beginnen einige unbeschwerte Jahre in der ländlichen Umgebung von Birmingham, die wir im Auenland der Hobbits wiedererkennen. Die Konversion der Mutter zur katholischen Kirche bringt Spannungen mit ihrer Familie mit sich. Schon 1900, Tolkien ist gerade acht Jahre alt, stirbt die Mutter. Die Vormundschaft der Jungen übernimmt Pater Francis Morgan vom Birmingham Oratory. Tolkien selbst entdeckt seine Liebe zur Sprache, zu den Worten und ihrem Klang, ihrer Herkunft. Sein besonderes Interesse am Altenglischen wird zentral für sein späteres wissenschaftliches und schriftstellerisches Leben. Auch während seines Studiums in Oxford (1911-1915) wird er nicht aufhören, eigene Sprachen zu erfinden.
Im Jahre 1908 lernt der Heranwachsende im Haus seiner Pensionswirtin die drei Jahre ältere Edith Bratt kennen – auch sie eine Waise. Als sich ihre Freundschaft intensiviert, untersagt Pater Francis seinem Schützling jeden weiteren Kontakt mit Edith vor dem Erreichen der Volljährigkeit. Tolkien hält sich daran, um am Tag nach seinem 21. Geburtstag das Werben um ihre Hand trotz erheblicher Widerstände aufzunehmen. Im Jahr 1916 heiratet er schließlich Edith, den beiden werden im Laufe ihres Lebens vier Kinder geschenkt. Doch zunächst holt ihn der Krieg ein.
Nach dem Krieg beginnt seine akademische Berufstätigkeit. Und er wird nie aufhören, die von ihm ersonnene Welt tiefer zu erkunden und in immer wieder neuen Revisionen auszuarbeiten.
Gedichte vertiefen die Handlung
Es ist bezeichnend für Tolkiens Schreibstil, dass er sich von seinen Figuren eher finden ließ, als dass er sie erfand. So schrieb er einen beiläufigen Gedanken auf: „In einem Loch im Boden, da lebte ein Hobbit.“ Aus diesem Gedanken wuchs sein Werk, das ihn zu einem der berühmtesten Autoren des 20. Jahrhunderts und zum Vater des Genres Fantasy machen sollte. Tolkien hat den „Hobbit“ als Gutenachtgeschichte seinen Kindern erzählt und als Kinderbuch veröffentlicht, ohne die Geschichte in sein Gesamtwerk („Legendarium“) einzubauen. Der Hobbit kam nicht nur bei den Kindern gut an. Bald wurde Tolkien gebeten, einen Nachfolgeband zu veröffentlichen, doch das neue Manuskript wuchs und wuchs zur Geschichte des „Herrn der Ringe“, in der ein Zauberring, im Kinderbuch lediglich als Requisit mit Zauberkräften gedacht, zum Ring der Macht wird, von dessen Vernichtung Wohl und Wehe der ganzen Welt abhängt. Tolkien entschied, den „neuen Hobbit“ in sein Legendarium einzubauen, verließ damit den Auftrag, ein Kinderbuch zu schreiben und bescherte sich und seinem Verleger einen jahrelangen Briefwechsel ebenso wie graue Haare. Bis 1955 war der gesamte Herr der Ringe in drei Bänden erschienen – einer der größten Bestseller des 20. Jahrhunderts.
Viele Tolkien-Fans, die den Herrn der Ringe bereits einige Male gelesen haben, überspringen die vielen eingeflochtenen Gedichte in der Hoffnung, man werde keine Information verpassen, die zum Fortgang der Geschichte notwendig ist. Besser ist es, die Gedichte nicht als Unterbrechungen, sondern als Vertiefung der Handlung zu sehen. Tolkien verstand es meisterhaft, sich auf verschiedene Genres einzulassen, wie es die Erzählung erforderte. Wer im Internet nach den Stichworten „Tolkien Troll Song“ sucht, findet ein besonders schönes, derbes Beispiel: Tolkien selbst singt Sam Gamdschies Lied als polterndes Trinklied, zu dem man am liebsten den Takt mit dem Bierkrug auf dem Tisch klopfen möchte. Andererseits begeistert die Schönheit von Tolkiens Elbensprachen den Leser. Vom Autor selbst existiert eine Interpretation des Gesangs „Namárië“ der Elbenkönigin Galadriel, die den Leser sofort vom Bann gewisser Filminterpretationen befreit. Auch in seiner Prosa überlässt Tolkien nichts dem Zufall. Alliterationen verleihen dem Geschehen eine epische Wirkung, Prosatexte, die Tolkien mit Rhythmus unterlegt, unterstreichen Tom Bombadils burlesken Charakter. Tolkiens Wortwahl kann altertümlich sein und sich dann wieder einem fröhlichen Umgangsstil nähern, wie im Treffen König Théodens mit den Hobbits Pippin und Merry: „Das ist also der König von Rohan! (…) Ein netter alter Bursche. Sehr höflich.“
Die Reiter von Rohan sind ein pragmatisches Reitervolk. Pflegen sie auch die Heldenepen ihrer eigenen Geschichte, so sind ihnen Zwerge und Elben fremd geworden, ein Gerücht der Vorzeit. Max Weber hat den Nerv der Zeit getroffen, als er die „Entzauberung der Welt“ diagnostizierte. Schon Carl Spitzweg hat das traurige Schwinden des Zauberbanns knapp hundert Jahre vor dem Herrn der Ringe in einem Gemälde festgehalten. „Der Gnom und die Eisenbahn“ zeigt eine rundliche Zwergenfigur in der trügerischen Sicherheit ihrer Höhle. Im Tal schnauft eines der ersten Dampfrösser seinem Ziel entgegen und wir wissen: Der Zwerg wird dem „homo oeconomicus“ weichen müssen, für den sein Zauberwald lediglich als Nutzwald Bedeutung hat. Für Tolkien geht mit der reinen Nutznießung der Welt ihre Schönheit verloren.
Der Entzauberung der Welt entgehen
Als Katholik weiß der Autor um die Schöpfung, um die Wahrheit des Dramas von Sündenfall und Erlösung. Da schon die primäre Welt so wunderbar ist, kann der Autor deren Glanz nicht übertreffen, wenn er sich an ihre innere Gesetzmäßigkeit hält. Mögen unsere Archäologen auch keine Elbenknochen und Balrogpeitschen finden können, so sind diese doch „real“. Die innere Wahrheit der Welt übertrifft und vollendet den Mythos.
Die Liebe zu Tolkien eint viele Milieus – von den Hippies der 70er bis zur heutigen Gaming-Szene. Auch Sozialwissenschaften und Genderforschung befassen sich mit dem Herrn der Ringe. Störend ist dabei jedoch mitunter Tolkiens katholischer Glaube. Unter Berufung auf Tolkiens Wort von seiner „herzlichen Abneigung gegen Allegorie“ wird dieser Zusammenhang eher verschämt behandelt: „Nun ja, Kirche. Er hatte halt eine schwere Jugend.“ Und es stimmt: Tolkien schrieb keinen Katechismus in Erzählform. Seine Lust war die des Märchenerzählers. Doch bevor sich die Hobbits Frodo und Sam auf den Weg zum Schicksalsberg machen und damit zur Eukatastrophe, der unverhofft glücklichen Wendung ihrer Leidensgeschichte, findet sich Sam in den Epen seiner Welt wieder und er fragt: „Hören denn die großen Geschichten niemals auf?“ Nein, sie hören nicht auf. Sie gehen weiter, und wir finden uns in ihnen: Im epischen Lied von Beren und Luthien, deren Liebe über den Tod hinausgeht, im Hohelied, das auf Christus verweist.
Tolkiens letzte Liebeserklärung ist der Name der Elbentochter Luthien auf Ediths Grabstein. Und darunter sein Name und der Name des Menschen, der glücklich um die Elbentochter warb: Beren.
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