Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert in Art. 1 „die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“. Die Gewissensfreiheit erscheint dabei als unmittelbare Folge der Würde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit. Dank des Gewissens erfährt der Mensch in seinem Innern den Anspruch des moralisch Guten: nicht nur quälend und anklagend als Gewissensbisse, sondern auch anregend, motivierend, kritisch prüfend, sich als verantwortungsvoll handelnde Person wahrnehmend.
Bereits Sokrates sprach unumwunden von einer mahnenden Stimme in seinem Inneren, der er zu gehorchen habe. Der Apostel Paulus erkennt in der Syneidesis ein Phänomen, das zum Menschsein gehört: als Instanz, die bezeugt, dass das moralische Gesetz allen Menschen ins Herz geschrieben sei. Doch weder in der antiken Philosophie noch in der Patristik kommt es zu einer Lehre vom Gewissen. Erst die Gelehrten des Hochmittelalters, unter ihnen vor allem Thomas von Aquin, bringen hier die entscheidende, bis heute gültige Wende. Die thomasische Gewissenslehre ist wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzen. Keine Moraltheologie, keine Ethik, keine Anthropologie, welcher Provenienz und welcher Couleur auch immer, kann, wenn sie ernst genommen werden will, an diesem Lehrstück über das Gewissen vorbeigehen. Es findet sich in den „Quaestiones disputatae de veritate“ (Disputationen über die Wahrheit).
„Der Mensch, der das Gute will, muss mit sich selbst zu Rate gehen, consilium,
muss sorgfältig überlegen, wie er das Ziel, das Gute, erlangen kann“
Es wurde höchste Zeit, diese zentralen Quaestiones endlich einmal vollständig in einer zweisprachigen Übersetzung zu präsentieren. Zwar hatte bereits Edith Stein auf dieses Desiderat zu Beginn der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts hingewiesen: durch eine ausgezeichnete Übersetzung sämtlicher Quaestiones, die aber nur die Antworten selbst und ausgewählte Erwiderungen auf die Einwände umfasste. Entsprechend doppelter Wortüberlieferung unterscheidet Thomas zwischen „synderisis“ und „conscientia“. Leider wird in der vorliegenden Übersetzung „synderisis“ gar nicht, „conscientia“ aber durchaus mit Gewissen übersetzt. Im Gewissen, verstanden als synderisis, liegt eine Grundverfassung oberster praktischer Prinzipien vor. Im Rückgriff auf diese vermag das Gewissen, verstanden als conscientia, die konkrete Handlung zu beurteilen. Von diesem Verständnis her legt sich doch für synderisis die Übersetzung Ur-Gewissen nahe, die vor Jahrzehnten bereits Josef Pieper vorgeschlagen hatte.
Wie auch immer: Jedenfalls beginnt durch den Spruch des Ur-Gewissens die Vernunft praktische Vernunft zu werden, sich also auf das Wollen hin auszuweiten und auszurichten. Damit ist der praktisch wirksamen Rationalität der Zugang zur Grundstruktur des menschlichen Strebens eröffnet. Es findet sich, so Thomas, in der konkreten Handlungsbestimmung prinzipiell eingeschlossen und verortet. Konkreter: Die Vernunft vernimmt das Wahre. Das Wahre wird zum Guten durch den Spruch des Ur-Gewissens, der da lautet: Das Gute muss man lieben. Das Bestreben kommt auf, das Gute zu erlangen. Das Gute wird zum Ziel dessen, was angestrebt wird, das Gute wird zum Ziel des eigenen Tuns, intentio finis.
Innerliche Beratschlagung
Doch wie ist dieses Ziel zu erreichen? Der Mensch, der das Gute will, muss mit sich selbst zu Rate gehen, consilium, muss sorgfältig überlegen, wie er das Ziel, das Gute, erlangen kann. Möglicherweise gibt es mehrere Wege, die zum Ziel führen, mehrere geeignete Mittel, mit denen das Gute verwirklicht werden kann. Ihnen wird zugestimmt, der consensus erfolgt. In der Zustimmung werden allesamt als zielführend und damit als „gut“ befunden. Dennoch muss ein Weg konkret ausgewählt und eine Wahlentscheidung getroffen werden. Sollte von Anfang an nur ein Mittel zum Ziel führen, ein einziger Weg das Gute realisieren, dann fallen Zustimmung, consensus, und Wahlentscheidung, electio, zusammen.
Das Endergebnis besteht jedenfalls in einem Urteil, das die Wahl trifft. Das Wollen wird konkret, wählt aus und entscheidet. Insofern ist der Inhalt des Gewissens nicht außerhalb oder über dem Gewissen, sondern ist Sache der Entscheidung. Im Transformationsprozess der theoretischen zur praktischen Vernunft hin zeigt sich zweierlei: erstens der Weg vom Allgemeinen zum Konkreten. Die Vernunft als Vernunft ergreift das Allgemeine, der Wille aber erstrebt das Besondere, das Konkrete. Zweitens: jedem folgenden Akt innerhalb dieses Transformationsprozesses wohne eine geringere Notwendigkeit und Gewissheit inne. Die synderisis, das Ur-Gewissen, ist untrüglich.
Irrtum ausgeschlossen!
Ihr Spruch hat unveränderliche Gültigkeit und Richtigkeit. Das Ur-Gewissen irrt nicht, niemals. Es ist unzerstörbar. Die Überlegung, das Urteil und der Befehl aber, die dem Spruch des Gewissens folgen und sich mit den Mitteln zum Ziel beschäftigen, können defizitär sein, Fehler und Irrtümer enthalten. Die Bindung an ein irriges Gewissen macht nach Thomas zwar nicht schuldig, aber auch nicht sittlich gut. Darin indes besteht die Tugend der Klugheit: wahrheitsgemäß, rite et recte zu überlegen, zu urteilen und zu befehlen. Das Ur-Gewissen aber, die synderisis, bezieht sich auf das Wahre, auf das, was die Vernunft ursprünglich vernimmt. Dieses wird durch den Spruch des Ur-Gewissens erstrebt, zu dem also, was der Erkennende will. Es wird somit zum Guten und Erstrebenswerten.
Insgesamt ist die Übersetzung ebenso wie die Einleitung hervorragend. Leider fehlt ein Wort- und Begriffsregister. Doch wer wissen will, was eigentlich mit „Gewissen“ nicht nur in unserem Grundgesetz, sondern vor allem in unserer Kirche gemeint ist, kann auf die Lektüre dieses Buches nicht verzichten.
Thomas von Aquin: Vom Gewissen. Quaestiones disputatae de veritate 16–17.
Lateinisch-Deutsch. Übers. und eingl. von Hanns-Gregor Nissing. Freiburg/Basel/Wien,
Herder Verlag, 2021, 223 Seiten, ISBN 978-3-451-38851-4, EUR 40,–
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