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„Das Alte ist nicht notwendig nur das Veraltete“

Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer ist ein Zeitdokument, das auch heute noch lesens- und bedenkenswert ist.
Hans-Georg Gadamer
Foto: IMAGO / Horst Rudel | Hans-Georg Gadamer, hier bei der Feier seines 100. Geburtstags in Stuttgart im Jahr 2000, stand über ein halbes Jahrhundert im Austausch mit Martin Heidegger.

Kann ein Briefwechsel von zwei Fachphilosophen auch für Nicht-Fachphilosophen interessant sein? Das ist denkbar – und im vorliegenden Fall tatsächlich so. Denn wer den Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer studiert, erfährt nicht nur Wichtiges über ihre Beziehung, über Universität, Berufungen und Berufungsverhandlungen, sondern auch Wesentliches über ein halbes Jahrhundert Zeit- und Kulturgeschichte. Von großem Vorteil dabei ist, dass hier in einer verständlicheren Sprache geschrieben wird als in der Fachliteratur.

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Sätze wie die folgenden regen zum Nachdenken an und erweitern den Horizont des Lesers. So schreibt etwa Heidegger an Gadamer: „Ich wünsche Ihnen sehr, dass der ‚Betrieb’ nicht allzu aufdringlich wird. Was er zeitigt, ist stets nur gemacht, aber nicht entstanden, nicht Solches, was aus eigenem Ursprung in diesen zu stehen kommt.“ Mit „Betrieb“ ist der Universitätsbetrieb gemeint, aber jeder, der dies liest, wird in seinem eigenen Bereich Formen des „Betriebes“ kennen: die Bürokratie und die vielen Leerläufe, die damit verbunden sind und von der eigentlichen Aufgabe abhalten. Und die Unterscheidung von „gemacht“ und „entstanden“ drückt ein entgegengesetztes Verhältnis aus: Einerseits der selbstherrliche und die eigentliche Bearbeitung der Aufgabe verhindernde Aktivismus, andererseits aber ein Denken und Handeln, das sich von der in Rede stehenden Sache lenken und leiten lässt.

Vergangen oder Gewesen?

Es finden sich aber nicht nur bei Heidegger gelegentlich an Aphorismen gemahnende Sentenzen, sondern ebenso bei Gadamer: „Das heutige Bewusstsein ist seiner selbst so gewiss, dass es nicht mehr zu hören versteht.“ Dieser Satz gilt für unsere Gegenwart wohl noch mehr als für die Gegenwart der Briefschreiber. Der „Fortschritt“ der Zeit ist hier nicht mehr zu übersehen. Wir, als Individuen wie als Gruppen oder Parteiungen, sind in unserem Kokon zu selbstsicher geworden, haben verlernt, auf das zu hören, was wir nicht selbst sind: zunächst auf die anderen, dann aber auch auf die gewachsenen Traditionen, in denen wir kulturalisiert wurden, auf die Religion oder auch auf die Lehren, die die Natur uns geben kann, wenn wir nur einen Sinn dafür hätten.

In diesem Briefwechsel fällt auch die wichtige Unterscheidung zwischen „Vergangenem“, das hinter uns liegt, und „Gewesenem“, das gerade nicht veraltet ist, sondern uns noch immer angeht: „Muss nicht der Unterschied zwischen Vergangenem und Gewesenem beachtet werden? Das Alte ist nicht notwendig nur das Veraltete, dem das Neue entgegensteht; worauf wir warten (…), hat nicht notwendig den Charakter des ‚Neuen’. Das Älteste des Alten reicht über uns hinweg und ruft uns nicht als das Neue, sondern als das vielleicht Rettende.“

„Der ‚völkische’ Gedanke ist eine höchste Form des ‚Subjektivismus’“

In geschichtlicher Hinsicht erfährt man auch viel über die unheilvollen dreißiger und vierziger Jahre, über die Kriegs- und Nachkriegszeit. Erhellend ist, wenn Heidegger kurz nach Rücktritt von seinem Rektorat an der Universität Freiburg im Brief vom 19. Mai 1934 über seine am 27. Mai 1933 gehaltene Rektoratsrede mit dem Titel „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ schreibt: „‚Selbstbehauptung’ ist keine Feststellung einer Tatsache – sondern war eine Forderung, zu der die heutige Universität keine Kraft mehr hat.“ Aufschlussreich ist auch Heideggers Bestimmung des „Völkischen“, wie es durch den Nationalsozialismus propagiert wurde: „Der ‚völkische’ Gedanke ist eine höchste Form des ‚Subjektivismus’.“ (Brief vom 31. März 1940) Diese Klassifizierung ist bei Heidegger alles andere als ein Lob. Denn der Subjektivismus ist die gegenwärtige Form der „Seinsvergessenheit“ und Gottverlassenheit. Und Heidegger äußert sich auch über die Auswirkung des Totalitarismus auf seine eigene Individualität: „In dieser Zeit der ‚Totalität’ ist auch die Vereinsamung eine totale …“ (Brief vom 13. November 1940).

Man erfährt von Heideggers „Volkssturmeinsatz“ (Brief Gadamers vom 11. Dezember 1944); davon, dass Gadamer in dieser Zeit ein „Heimatflak-Wehrmann“ und daher „volkssturmfrei“ war; von der Unterernährung von Gadamers Frau (Brief vom 31. Oktober 1945); davon, dass Göttingen durch eine Bergwerksexplosion einen guten Teil seiner dort eingelagerten Bücherschätze verloren hat und dass die Naturwissenschaftler der Universität Leipzig von den Amerikanern „mitgenommen“ wurden; dass die beiden Söhne Heideggers „in Russland verschollen“ sind (Brief vom 20. Dezember 1945) und dass das untere Stockwerk von Heideggers Haus in Freiburg-Zähringen, zusammen mit seinem Arbeitszimmer (das sich im ersten Stock befand), durch „Franzosen und andere Einquartierung“ belegt ist.

Die beiden Herausgeber, Jean Grondin und Mark Michalski, haben die Briefe ausführlich kommentiert, was für den Leser zweifellos sehr hilfreich ist und das Bild, das man von einem halben Jahrhundert Geistes- und Zeitgeschichte gewinnt, vervollständigt.

Hans-Georg Gadamer/Martin Heidegger: Briefwechsel 1922–1976, Frankfurt am Main/Tübingen: Klostermann / Mohr Siebeck, 2024, 532 Seiten, gebunden, EUR 68,–

Der Rezensent ist emeritierter Professor für Philosophie. Zuletzt erschien von ihm „Bergsteigen – Eine Philosophie des Lebens“ (Tyrolia, 2025).

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Günter Seubold Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Hans-Georg Gadamer Martin Heidegger Nationalsozialismus Totalitarismus Zeitgeschichte

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