Clive Staples Lewis ist hierzulande überwiegend als Autor der „Narnia“-Kinderbuchserie bekannt, bestenfalls auch noch als geistlicher Autor. Dass er auch ein bedeutsamer philosophischer Denker war, zeigt ein verdienstvoller neuer Sammelband, der zentrale Texte erstmalig auf Deutsch vorlegt.
Tatsächlich kann man von einer kleinen Sensation sprechen. Lewis ist zweifellos einer der weltweit bedeutsamsten geistlichen Autoren des 20. Jahrhunderts. Ist es tatsächlich vorstellbar, dass seine Antrittsvorlesung auf dem 1954 für ihn errichteten Lehrstuhl in Cambridge erst im Jahr 2019 auf Deutsch erschien? Umso erfreulicher, dass Herausgeber Norbert Feinendegen und der Baseler Fontis-Verlag das Wagnis nicht gescheut haben, heutigen Lesern auf knapp 400 Seiten mitunter wenig bekannte Seiten Lewis' vorzustellen.
Über den Schmerz der Tiere
Zum Äußeren: Es handelt sich um nicht weniger als 38 Aufsätze, die bislang nicht auf Deutsch vorlagen. Sie sind nicht chronologisch angeordnet, sondern thematisch gegliedert. Diese Entscheidung ist eine Erleichterung für den Leser. Vielleicht nicht jeder, den Lewis' tiefgründige Gedanken zum „Schmerz der Tiere“ oder dem Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft interessieren, würde spontan einen Aufsatz über Science-Fiction oder über Beowulf lesen. Es finden sich also philosophisch-theologische, geistesgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Texte getrennt voneinander. Zwei Aspekte der Person Lewis freilich werden durch diese Entscheidung etwas verdunkelt. Dies ist zum einen die geradezu ärgerliche Genialität, mit der Lewis sich zeitgleich mit völlig unterschiedlichen Themen auf jeweils gleich intensive Weise gedanklich befassen konnte. Er war eben Kinderbuchautor, Dichter, akademischer Lehrer, Literaturwissenschaftler, Philosoph, spiritueller Denker und wortgewaltiger Apologet zugleich. Auf keinem dieser Gebiete hat er jemals auch nur Mittelmäßiges vorgelegt. Zum anderen wird durch die thematische Gliederung des Sammelbands die menschliche und gedankliche Entwicklung von Lewis etwas schwerer nachvollziehbar.
Doch dies ist aufgrund einer weiteren ärgerlich-genialen Eigenschaft des Autors durchaus verzeihlich: Bereits der junge, frisch zum Christentum bekehrte Clive Staples nimmt innerhalb weniger Jahre alle zentralen Gedanken seines späteren jahrzehntelangen Schaffens vorweg und scheint aus einem so reichen Fundus nie versiegender Kreativität zu schöpfen, dass alles mit den Jahren nur noch überfließender, doch nicht kategorial anders wird. Über 500 (höchst sorgfältig erarbeitete und lesenwerte) Fußnoten, ein gründliches Literaturverzeichnis und Fotos aus dem Leben von Lewis runden das äußere Bild des Bandes ab: Hier wurde der Universalität eines schriftstellerischen Genies mit würdiger Akribie entsprochen. Wie anders könnte man es auch verantworten bei einem Autor, dessen Frühwerk „Pilgrim's regress“ bereits in einem einzigen Kapitel Dutzende offener oder verdeckter Zitate aus der gesamten von der Antike bis zur Gegenwart reichenden Literatur und Philosophie enthält? Wie überhaupt mit einem Denker umgehen, der Dante, Thukydides, Pascal und das Hildebrandlied allesamt in der Originalsprache zitiert, die darin enthaltenen Strukturen wie schlafwandlerisch mit der Philosophie der Neuplatoniker vergleicht und schließlich in alledem die Parallelen und Unterschiede zur christlichen Botschaft entdeckt, die er in radiotauglicher Sprache dem BBC-Hörer des 20. Jahrhunderts erklären konnte?
Auch im Himmel gibt es Höflichkeit
Einem Titan wird man nicht so schnell gerecht. Bibliophile Bemühung ist einer der geringsten gebotenen Ehrfurchtsbezeugungen. Und so vermag diese Rezension auch nicht, das gedankliche Gewicht des Bandes auszuloten. Das Selbstlesen bleibt einem nicht erspart. Denn wo sollte man beginnen? Bei der „Meditation in einem Geräteschuppen“, die nichts weniger ist als ein erkenntnistheoretischer Donnerschlag, der zentrale philosophische Erkenntnisse (wie in Nagels sensationellem Aufsatz „What Is It Like to Be a Bat?“ von 1974) um Jahrzehnte vorwegnimmt? Oder die schon besagte Antrittsvorlesung, in der der Literaturwissenschaftler geradeheraus die These verteidigt, die Renaissance als eigene Epoche gebe es nicht, vielmehr sei das weltanschauliche Kontinuum seit der Antike erst durch die materialistische Moderne gewaltvoll abgerissen worden? Seine philosophisch-theologischen Aufsätze zur Bibelkritik und über liberales Christentum, die Entwicklungen der westlichen Kirchen um Jahrzehnte voraussahen und Irrwege bereits mit der Schärfe des intellektuellen Skalpells als solche identifizierten? Lewis zitiert Milton, der zu berichten weiß, dass es die Höflichkeit auch im Himmel gebe, „wo niemand es an geziemender Ehre und Ehrerbietung fehlen lässt“ (Paradise Lost: III, 737).
Einem Autor, der in so vielem seinen Lesern einen Geschmack vom Himmel zu vermitteln vermochte, ebensolche Ehrerbietung entgegenzubringen, ist das große Verdienst dieses wertvollen Sammelbandes.
Norbert Feinendegen: C.S. Lewis – Durchblicke. Texte zu Fragen über Glaube, Kultur und Literatur.
fontis Verlag, Basel 2019, 416 Seiten, ISBN 978-303848-168-3, EUR 18,–
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