Fallobst“ nennt Hans Magnus Enzensberger sein neuestes Opus spitzbübisch, wohl wissend, dass man dieses möglichst umgehend aufsammeln sollte, damit es nicht verdirbt. Man kann es natürlich auch einfach liegen lassen, wie die Unterbezeichnung „Nur ein Notizbuch“ insinuiert. Doch bereits das als Vorwort getarnte Gedicht gibt in typischer Enzensberger-Manier die Anweisung zum Gebrauch: „Keimfrei ist es nicht, schwer zu verpacken und kaum zu verkaufen. Es braucht keine Reklame, kein Etikett.“ Es spricht also für sich selbst.
Und dass das Fallobst von Hans Magnus Enzensberger nicht liegen bleibt, dafür sorgt natürlich der geneigte Leser. Auch wird es ihm sogleich in Körben dargeboten. Das Angebot ist reichhaltig und abwechslungsreich. Zitierte Leseschätze von Augustinus zu Montesquieu, von Franz Kafka zu Gilbert Keith Chesterton, von Blaise Pascal zu André Gide und natürlich eigene Reflexionen und Essays und manch schönen Aphorismus „Die Seele durch die Psyche zu ersetzen war keine gute Idee.“ Oder: „Das einfache Leben ist und bleibt unerreichbar.“ Oder: „Man tut gut daran, alles abzusagen, was angesagt ist.“ Oder: „Leeres ist das beste Papier. … Alle, wie sie auch sein mögen, sind Teil eines Ganzen, das sie nicht durchschauen.“
„Enzensbergers bereits siebzig Jahre andauernde aufmerksame und Aufmerksamkeit erfordernde literarisch-politische Präsenz ist aus der Bundesrepublik nicht wegzudenken.“
Zum 90. Geburtstag dieses intellektuellen homo scribendus am 11. November erschien in dieser Zeitung bereits eine ausführliche Würdigung. Enzensbergers bereits siebzig Jahre andauernde aufmerksame und Aufmerksamkeit erfordernde literarisch-politische Präsenz ist aus der Bundesrepublik nicht wegzudenken. An literarischen Gattungen beherrscht er so ziemlich alle. Und doch ist das Gedicht wohl immer noch seine ureigenste Ausdrucksform. Und so ist es erfreulich, dass der Suhrkamp Verlag dem Prosaband „Fallobst“ auch eine Gedichtsammlung der Jahre 1950–2020 an die Seite stellt. Enzensberger hat die Gedichte (wie schon die der vergangenen im Fünfjahresrhythmus erschienenen Sammelbände) persönlich ausgewählt.
An ihnen kann man die Wandelbarkeit des Dichters nachvollziehen, denn die Gedichte sind chronologisch angeordnet, ohne eigens datiert zu sein. Von den Anfängen innerhalb der Studentenbewegung und Rebellion gegen das Establishment ist eine feine Ironie übrig geblieben, auch stets ein Hinterfragen oder In-Frage-Stellen von vermeintlich sicher Gewusstem. Neben dem Aufrührerischen seiner poetischen Anfänge waren schon ab Mitte der sechziger Jahre fragile, meditative Texte bei Enzensbergers zu finden, zum Beispiel in dem Gedicht „Empfänger unbekannt – Retour a l'expéditeur“: „Vielen Dank für die Wolken./ Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier/ und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel … und, damit ich es nicht vergesse,/ für den Anfang und das Ende/ und die paar Minuten dazwischen/ inständigen Dank,/ meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.“
„Absichtslosigkeit“ immer wieder in seinen Gedichten
Auf die Frage nach einer speziellen Inspiration gab Enzensberger Herlinde Koelbl zur Antwort: „Das kann von überall herkommen. Hören Sie nur mal einem fünfjährigen Kind zu. Was dem alles einfällt. Das ist im Grunde der gleiche Vorgang. Das Wunderbare bei Kindern ist ja, dass sie ganz absichtslos produzieren. Sie verschwenden ihre Einfälle. Ein Moment von Verschwendung gehört zu jeder Art von Dichtung.“
Diese Absichtslosigkeit tritt immer wieder einmal direkt aus einem Gedicht hervor, zum Beispiel in dem Gedicht „Konsistenz“ über die Beschaffenheit eines Kiesels. „Der Gedanke/ hinter den Gedanken./ Ein Kiesel, gewöhnlich,/ unvermischt, hart,/ nicht zu verkaufen.// Löst sich nicht auf,/ steht nicht/ zur Diskussion,/ ist, was er ist/ … braucht keine Begründung.“ Oder über die Wolken, diese vergänglichen Gebilde, denen er 2003 einen ganzen Gedichtband widmete „Die Geschichte der Wolken“.
Enzensberger bezeichnet sich als katholischen Agnostiker
„Gegen Streß, Kummer, Eifersucht, Depression/ empfiehlt sich die Betrachtung der Wolken./ Mit ihren rotgoldenen Abendrändern/ übertreffen sie Patinir und Tiepolo./ Die flüchtigsten aller Meisterwerke, / schwerer zu zählen als jede Rentierherde, / enden in keinem Museum.// Wolkenarchäologie – eine Wissenschaft/ für die Engel...“ 240 Seiten aus sieben Jahrzehnten eines lyrischen Lebenswerks, das macht bei Lyrikliebhabern sicher Lust auf mehr, soweit sie nicht bereits alle Vorgängerbände besitzen.
Als einen katholischen Agnostiker würde er sich bezeichnen, das erfahren wir in den Fallobst-Reflexionen. „Trotzdem habe ich mich als Schüler und als Student für theologische Fragen interessiert. Das habe ich der Gastfreundschaft der Benediktiner in Neresheim, ihrer Tafel, ihrem Wein und ihrer vorzüglichen Bibliothek zu verdanken… Schon deshalb ist für mich der Atheismus keine Option, sondern eine fixe Idee. Diesem Club möchte ich nicht angehören….“ – „Wir wüssten keinen, mit dem wir uns lieber einen Reim auf diese Welt machen würden“, schrieb einmal die „Neue Zürcher Zeitung“ über Hans Magnus Enzensberger. Dazu ist mit diesen beiden Bänden ausgezeichnet Gelegenheit.
Lesetipp:
- Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Mit Zeichnungen von Bernd Bexte. Suhrkamp Verlag Berlin 2019, 368 Seiten,EUR 30,–
- Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1950–2020. Suhrkamp Verlag Berlin 2019, 238 Seiten, EUR 14,–
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