Wie würde sich Ernst Jünger (1895-1998) beim Ausbruch der Corona-Pandemie verhalten haben? Eine kuriose Frage, die in einer SWR-Radiosendung ernsthaft an den Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel (*1947) gestellt und von diesem ebenso ernsthaft beantwortet wurde. Neben Stichwörtern wie vorsichtig, diszipliniert, solidarisch und fürsorglich verwies Kiesel auf das notorische Bemühen des Schriftstellers um eine philosophisch fundierte gefasst-distanzierte Haltung in extremen Zeiten durch entsprechende Lektüre, wozu aktuell der Roman „Die Pest“ von Albert Camus (1913-1960) von 1947 passen würde. Kiesel erinnerte daran, dass Jünger sich während des Zweiten Weltkriegs eine Bibliothek der Schiffbrüche angeschafft habe, um zu erfahren, wie sich Menschen in katastrophalen Situationen verhalten und um sich auch auf solche Situationen einzustellen.
In der Tat gehörte „Schiffbruch“ zu den oft gebrauchten Metaphern Ernst Jüngers, um Zustände in den Zeitläufen zu beschreiben, die er in seinem fast 103-jährigen Leben durchschritt. So sah sich der „große Konservative“ (Alfred Andersch, 1914-1980), wie er in einem Interview 1977 sagte, „in einer Zeit, in der alle Ordnungen, sagen wir die moralischen und gesellschaftlichen Ordnungen, Schiffbruch erleiden“. Im „Schiffbruch“, der ja dem Untergang vorausgeht, verhüllt ein vergleichsweise gedämpft klingendes Wort das Schreckliche, das folgt: Grauen und Entsetzen. Schaurige Dioskuren in den Schicksalsschlünden menschlichen Daseins. Ernst Jünger unterschied vom Grauen das Entsetzen, das „etwas ganz anderes ist“. „So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen ..., während das Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade deshalb von ihm mit mächtigerem Griffe gefesselt wird.“
Schlagwort „Corona-Apokalypse“
Eine solche phänomenologische Differenzierung konnte wohl nur jemand vornehmen, der das Pandämonium des Schrecklichen in allen Schattierungen erlebt, eingesogen und mit dem geschriebenen Wort in öffentlichen Umlauf gebracht hatte. Als „das furchtbarste Buch gegen den Krieg, das jemals geschrieben worden ist“, bezeichnete der Dramatiker Rolf Hochhuth (1931-2020) Jüngers auf dessen Fronttagebüchern des Ersten Weltkriegs basierendes Werk „In Stahlgewittern“ (1920). Hochhuth: „Es ist DAS Antikriegsbuch.“
Ob Ernst Jünger die Kriegsmetaphern, mit denen Politiker gegen die Corona-Pandemie mobil machten, goutiert hätte, ist zu bezweifeln. Gewiss, Grauen und Entsetzen gab es in den von der Seuche heimgesuchten Regionen. Vor allem in einer Sequenz verdichtete sich eine veritable Ikonografie des Schreckens: Aufnahmen aus dem italienischen Bergamo, die zeigen, wie nächtens eine Kolonne Militärfahrzeuge Massen von Särgen mit Toten aus der Stadt bringt, deren Leichenhäuser überfüllt sind. „Corona-Apokalypse“ etablierte sich als mediales Schlagwort. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach warnte vor „apokalyptischen Umständen“. Selbst der dezidiert religionsferne Humanistische Pressedienst schrieb von „apokalyptischen Ängsten“.
Semantische Profanierung eines theologischen Begriffs
Diese Äußerungen zeigen vor allem eines: die semantische Profanierung eines theologischen Begriffs, dessen Ausdeutung Bibliotheken füllt. Die schlichte Gleichsetzung von Apokalypse und Weltuntergang macht die mediale Überdimensionierung als Reaktion auf eine Krise deutlich, die das gesellschaftliche Geschehen mit ihrer Jähe überwältigte. „Das Dämonische ist das Plötzliche“, schrieb der dänische Philosoph und Theologe Soren Kierkegaard (1813-1855). In der Corona-Krise seien die biblischen Bilder der Apokalypse plötzlich unerwartet real geworden, wurde der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki zitiert. Wer die Offenbarung des Johannes liest oder entsprechende aufwühlend-verstörende Werke der Maler vom Mittelalter bis zur Moderne betrachtet, erkennt die Übertreibung solcher Zuschreibungen. Vor allem ist in diesem, dem letzten Buch der Bibel die Rede von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Denn, wie mir einmal der große katholische Theologe Klaus Berger (1940-2020) – Autor eines zweibändigen Kommentars zur Apokalypse des Johannes – sagte, das Faszinierende an Apokalypsen besteht „darin, dass sie eine neue Welt entwerfen, die dem Untergang der alten folgt. Das griechische Wort Apokalypse steht ja für Enthüllung, Entschleierung, Offenbarung dieser neuen Ordnung, die dann immer auch eine Friedensordnung sein soll“.
„Der wahre Kampf geht um die Frage,
welche soziale Form die liberal-kapitalistische
Welt-Ordnung ersetzen wird“
Slavoj Žižek
Insofern weisen Hoffnungen, Erwartungen, Forderungen, die jetzt mit der Gesellschaft „nach Corona“ verbunden werden, zumindest apokalyptische Ansätze auf. Der Herder-Verlag bewirbt dieserart das Buch „Was gutes Leben ist“ des Benediktinerpaters Anselm Grün (*1945): „Ein Buch nicht nur für gläubige Menschen, sondern für alle, die das eigene Leben und das der Gesellschaft verändern wollen. Seine Perspektive ist heilsam: Endlich leben, was wirklich guttut. Uns und der Mitwelt.“
Der slowenische Radikalphilosoph Slavoj Žižek (*1949) hingegen hält nichts von „spirituellen New-Age-Meditationen darüber, dass uns die Krise dazu befähigen wird, uns darauf zu konzentrieren, um was es im Leben wirklich geht. Der wahre Kampf geht um die Frage, welche soziale Form die liberal-kapitalistische Welt-Ordnung ersetzen wird“. Žižek präferiert einen Kommunismus des „neuen Stils“, der „die Wirtschaft kontrollieren und die Souveränität der Staaten einschränken kann“. Auch das einst metaphysisch aufgeladene Wort „Revolution“ ist im Schwirren der Schwafler allzeit präsent. Mit schillernden Epitheta, die von „spirituell“ bis „sozial-ökologisch“ reichen, und mit frappanten Verkündigern wie dem Parlamentarischen Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann, der vor einer Radikalisierung der Mittelschicht und einem „Zusammenbruch politisch geordneter Verhältnisse“ warnte, der „unfassbares Leid“ auslösen könne. Dann liege „irgendwann Revolution in der Luft“.
Im Chaos der Umbruchzeiten sterben die Gewissheiten
„Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Begierden Lehrer sucht, um sich die Ohren zu kitzeln; und man wird von der Wahrheit das Ohr abwenden, sich dagegen Fabeleien zuwenden“, schrieb schon der Apostel Paulus im 2. Brief an Timotheus. Im Chaos der Umbruchzeiten sterben die Gewissheiten. Wie im Bermuda-Dreieck entwerten ziellos rotierende Kompassnadeln einst verlässliche Navigationsinstrumente zu unnützen Accessoires. Aber auch: „Das Chaos ist dem Werdenden günstiger als die Form.“ Ernst Jünger, der diesen Satz 1929 in der Hoch-Zeit des Niedergangs der Weimarer Republik schrieb, verband damit die Hoffnung auf Zerstörung des demokratischen Gesellschaftsmodells, das er in seinem damaligen Denken zutiefst verachtete.
Die Frage, welch Werdendes aus dem Chaos der vergangenen Monate erwächst, trieb auch die gesellschaftlichen Prota- und Antagonisten in der Corona-Krise um. Diese Spannungslage wurde dann noch prolongiert und überformt von einer global aufflammenden Bewegung, die sich auf einen imaginären Krankheitserreger beruft („Virus des Rassismus“): Dem von einem weißen US-Polizisten verschuldeten Tod des Schwarzen George Floyd folgten in den USA und zahlreichen anderen Ländern teilweise von Gewalt begleitete Massenaufmärsche. Die das baldige Weltende verkündenden Kinderkolonnen waren nun abgelöst von Zigtausenden Zornerfüllten, die mit ihren ritualisierten Bekundungen wütend-wuchtiger Anklage und Selbstanklage als letztes Bollwerk gegen eine in Rassismus und Faschismus versinkende Welt aufscheinen.
Wie geht es weiter?
Mit einer zum politischen Scheusal avant la lettre erklärten zentral-globalen Hassfigur: US-Präsident Donald Trump, hierzulande aktuell unter anderem etikettiert als „Zerstörer“ (Stern), „Feuerteufel“ (Spiegel) oder „apokalyptischer Reiter“ (MDR). Nicht zuletzt die Ausweitung der Zone des Klassenkampfes für eine bessere Welt auf öffentliche Standbilder und Denkmäler bereits verblichener, aber wegen ihrer einstigen Anschauungen nicht mehr mit dem Zeitgeist kompatibler Persönlichkeiten zeigt die fließenden Übergänge von legitim gebotenen politischen Aktionen zu irrational-radikalistischer Destruktivität.
Wie geht es weiter? Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, meint ein wahlweise Karl Valentin oder Mark Twain zugeschriebenes Bonmot. Man kann, wie es Ernst Jünger tat, zu einschlägiger Schiffbruch-Lektüre greifen. Beispielsweise zu Hans Magnus Enzensbergers (*1929) Versepos „Der Untergang der Titanic“ (1978), in dem es heißt: „Das Klirren des Tafelsilbers. Ja, ich glaube, so fing es an, so oder so ähnlich ...“ Genau da liegt das Problem: Man weiß selbst hinterher nicht, wie es eigentlich anfing.
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