"Wir sind mehr“ hallte es im September 2018 von den Tribünen in Chemnitz. Der Satz eroberte die Politik- und Medienlandschaft: laut der Internetplattform Twitter avancierte das Hashtag #WirSindMehr zum meistgenutzten Debattenhashtag des Jahres 2018. Er landete bei der Wahl zum Wort des Jahres auf Platz vier. Was als Motto eines linken Musik-Festivals begann, das als Reaktion auf die Ausschreitungen von Chemnitz entstand, wurde zum Ausweis derjenigen, die sich in der gesellschaftlichen Debatte auf der richtigen Seite glaubten. Nicht nur Parteipolitiker der Linken und Grünen, sondern auch Vertreter der SPD zitieren den Spruch immer wieder – bis heute. Die Berufung auf die Mehrheit reicht als Argument für die eigene Meinung.
Grönemeyer knüpft an die Jakobinische Tradition an
Ein Jahr später: wieder ist es September, wieder ist es ein Konzert, dass die Gemüter bewegt. Nicht in Chemnitz, sondern in Wien. Herbert Grönemeyer widmet die Veranstaltung zu einem politischen Plädoyer um. „Kein Millimeter nach rechts“, so der Popsänger. Die Aussage, die in den sozialen Netzwerken jedoch irritiert, ist eine andere. „Wenn Politiker schwächeln, dann liegt es an uns zu diktieren, wie eine Gesellschaft auszusehen hat.“ Ein Spruch, den Außenminister Heiko Maas kurzerhand per Twitter verteidigt – und sich damit ungewollt selbst zu jenem schwächlichen Typus des Politikers abkanzelt.
Vorfälle wie diese sind keine bloßen Exzesse. Die Symptome sind seit Jahrhunderten bekannt. Philosophen und Staatsmänner wie Aristoteles, Polybios, Niccolo Machiavelli oder Alexis de Tocqueville haben sie immer wieder analysiert. Die Demokratie galt unter Winston Churchill noch als die schlechteste Regierungsform – mit Ausnahme aller anderen. Seit Francis Fukuyamas Postulat vom „Ende der Geschichte“ hat sich die Rolle vom geringeren Übel hin zum globalen Versprechen gewandelt: die Demokratie freiheitlich-westlicher Prägung als letzte Regierungsform auf diesem Planeten.
Die Demokratie als Erfüllung der Geschichte hat seitdem eine nahezu theologische Dimension angenommen, weshalb ihre Kritiker heute vielfach als „Demokratieverächter“ gescholten werden. Dabei haben gerade konservative Denker wie Tocqueville die Nachteile der Demokratie nicht deswegen herausgekehrt, um diese zu diskreditieren, sondern um vor ihren Fehlern zu warnen. Die zeitgenössische Überzeugung, dass die Demokratie die beste Herrschaftsform sei, hat dazu geführt, dass die historischen Erfahrungen verdrängt werden.
Noch mehr: die offensichtlichen Dekadenzerscheinungen der Demokratie werden nicht nur übersehen, sie werden mithin geradezu als Krönung oder Auszeichnung verklärt. Seit der Antike bis hin zur Französischen Revolution hat die Demokratie in ihrer theoretischen wie praktischen Version nämlich vor allem einen Vorwurf einstecken müssen: den der Tyrannei der Mehrheit.
Der Kontrahent wird diskreditiert
Die Gegenwart hat es verstanden, den Begriff „Minderheit“ auf eine rein ethnische, sexuelle oder religiöse Komponente herunterzubrechen. Der heutige mediale Diskurs suggeriert, dass die Parteien des konservativen Spektrums sich „gegen Minderheiten“ stellten. Dass der Begriff der Minderheit aber zuerst eine politische Minderheit meint, heißt: eine Gruppe, die divergierende Ansichten vom Rest der Mehrheit hat, wird so gut wie gar nicht mehr kommuniziert – wohl, weil dann das Problem entstünde, dass diese Minderheit dieselben Rechte und Toleranzgebote einfordern dürfte wie alle anderen Minderheiten auch. Heute disqualifiziert das spätdemokratische Etikett „Hass“ den unliebsamen politischen Kontrahenten als jemanden, der gar nicht dazu befähigt ist, am politischen Diskurs teilzunehmen.
Wenn demnach ein Sänger wie Grönemeyer sich trotz seines „Diktats“ auf die „offene Gesellschaft“ oder „Humanität“ beruft, erinnert das stark an die jakobinische Tradition seit der Französischen Revolution: der (demokratische) Staat muss gerettet werden, auf welche Weise auch immer. Der Terror ist ein Ausfluss der Tugend, eine unbeugsame Gerechtigkeit.
Nicht die Freiheit ist die große Neuerung, welche die Demokratie nach 1789 mit sich bringt; ebenso wenig ist es die Brüderlichkeit, die das Christentum schon seit Jahrhunderten predigt. Es ist jene Gleichheit der Menschen, die in dieser Form erst Jean-Jacques Rousseau ins Spiel gebracht hat. Der Venezianer Vittorio Barzoni, der zu Lebzeiten die Zerstörung seiner Republik durch Napoleon und deren oktroyierte Demokratie erlebte, erkannte früh, dass der Gleichheitsgedanke nicht bei der Gleichheit vor dem Gesetz haltmachte.
Nach dem Fall seiner Republik betätigte sich Barzoni als Schriftsteller und Verleger reaktionärer Schriften – und stellte früh fest, was die Volksherrschaft von Meinungs- und Pressefreiheit wirklich hielt. Sein Resümee: In dem Moment, da sich der Staat von seinen kulturellen Fesseln löst – der Kirche, zivilen Institutionen, Sitten und Bräuchen – wendet sich nicht nur der Bauer gegen den Adligen, sondern auch der Arme gegen den Reichen; aus Gleichheit vor dem Recht pervertiert die Vorstellung sozialer Gleichheit, womit Barzoni bereits kommende sozialistische Ideen prophezeite. Zuletzt wendete sich gar der Idiot gegen das Genie, weil dieser das Verbrechen begangen hat, anders zu sein als er selbst.
Die Gleichheit besiegt die Freiheit
Der Vergleich erscheint überspitzt und polemisch, aber er ist in der letzten Sache konsequent. Eine Generation später zeichnete Tocqueville eine sehr ähnliche Skizze der tyrannischen Exzesse einer Demokratie. Die Demokratie ist in ihrem Kern universell, sie drängt zu Formen, zu Zwängen – und damit paradoxerweise zur Konformität. Nicht auf den Körper, sondern auf den Geist zielt die letzte Form der Demokratie: wer nicht die allgemeine Meinung teilt, verliert nicht sein Leben, aber ihn ereilt der gesellschaftlichen Tod.
Freiheit und Gleichheit stehen in einem Spannungsverhältnis, das in dem Moment zugunsten der tyrannischen Demokratie kippt, da der Gleichheitsgedanke den Freiheitsgedanken besiegt und die bis dato mündigen Bürger auch das Nachdenken an die benevolente Demokratie delegieren. Tocqueville: „Die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voranging, zu vergleichen sein.“
Demokratien sind – auch das ist eine oft vergessene, historische Tatsache – kurzlebige Gebilde, vergleicht man sie mit einer Wahlmonarchie wie dem Heiligen Römischen Reich oder einer aristokratischen Republik wie Venedig, die über Jahrhunderte bestanden. Das Überleben der Demokratie speist sich aus ihren Institutionen und jenen Sitten und Tugenden, die ihre Bürger verinnerlicht haben. Wie wichtig letztere sind, hat Machiavelli für die Römische Republik, Tocqueville für die USA herausgearbeitet.
Letzterer stellt am Beispiel der frühen Siedler fest, dass jene mit festen „Ideen“ einer langfristigen politischen Organisation den Weg geebnet hätten; nicht jene, die nach Gold oder Fellen suchten, sondern die, welche der Geist der Freiheit oder der Geist der Religion leitete, bauten Staatswesen auf. Solange die Amerikaner Werte wie Familie, Individuum, Religion und Freiheit als „mores“ kultivierten, sei die Demokratie vor ihrer Pervertierung gesichert. Selbst die beste Verfassung kann den Verfall der Tugenden nicht beenden; sie verzögert den Niedergang, verhindert aber nicht den Untergang.
Die Masse will die Demokratie abschaffen
Die heutigen europäischen Demokratien zehren vom materiellen, institutionellen und moralischen Erbe ihrer Vorgänger. Wenn dieses aufgebraucht ist, steht auch das Gesellschaftswesen vor seinem Ende. Die Fratze der Ochlokratie offenbart sich in einem jakobinischen Mob, der sich zwar auf die demokratischen Errungenschaften beruft, aber eine christliche Demonstration zum rechtlich verankerten Schutz des Lebens bedroht. Die Selbstgerechtigkeit von selbsternannten Weltenrettern, die privates wie öffentliches Eigentum im Namen der „guten Sache“ beschädigen, sind vergleichbar mit anderen Erscheinungen der Geschichte, in denen der gesammelte Glaube einer Gruppe über Verstand und Gesetz triumphiert.
Wenn das Recht zugunsten einer tagesaktuellen Ideologie gebrochen wird – man mag es heute fälschlich „Moral“ nennen – dann sind dies eben keine Anzeichen von Menschlichkeit, sondern die Wegbereitung von Exzess, Rebellion und Gewalt. Der Geist der Masse, den die Demokratie hervorbringt, aber die Demokratie abschaffen will, spricht auch aus Roger Hallam, dem Gründer der „Extinction Rebellion“, wenn er schonungslos urteilt: „Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant.“
Umso erstaunlicher mutet daher die Haltung der Kirchen an. Ihre Aufgabe wäre es, auch in der Krisenzeit der Demokratie sich nicht mit der Mehrheitsmeinung gemein zu machen, nur, weil diese gerade dominiert und einen „Imagegewinn“ bedeutet. Vielmehr hätte sie die Aufgabe, ihre Gläubigen an die Worte Benedikts XVI. zu erinnern, dass Wahrheit und Recht keine Sache des Mehrheitsprinzips sind. Wenn der Glauben wegfällt, glauben die Menschen an alles; und wenn die herrschende Meinung das Recht bedroht, ist es Zeit, das übergeordnete Naturrecht wieder auf den Tisch politischer Vernunft zu bringen. Das gilt – zusammen mit den Tugenden von Liebe, Glaube und Hoffnung – auch jenseits aller Staatsformen.