War die Erkenntnis des Astronomen Nikolaus Kopernikus überhaupt nötig? Diese Frage stellte sich der französische Mathematiker Henri Poincar zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Wäre die Entdeckung, dass sich die Erde um ihre Achse und um die Sonne dreht, auch möglich gewesen bei einer sich nie aufklärenden Wolkendecke wenn also niemand den Himmel gesehen hätte? Und wenn die Seefahrer nie die Fixsterne zur Orientierung gehabt hätten? Poincar bejaht diese Frage, nur hätte die Entdeckung der astronomischen Verhältnisse etwas länger gedauert. Spätestens am 3. Januar 1851 wäre es soweit gewesen, als der französische Physiker Léon Foucault seine ersten Pendelversuche unternahm, mit dem sogenannten Foucaultschen Pendel. Als er kurz danach den Versuch im Panthéon in Paris mit einem 67 Meter langen Pendel durchführte, wurde deutlich, wie sich unter der Schwingungsebene die Erde wegdrehte, womit die Erdrotation endgültig bewiesen war.
Ja selbst dieses Versuchs hätte es nicht bedurft, man kann das Experiment auch mathematisch ausrechnen und so die Erddrehung beweisen, mit der wir uns in unseren Breiten mit 1.000 Stundenkilometern Richtung Osten bewegen. Kopernikus aber hat als erster die Erddrehung ausgesprochen und die um die Sonne, auch wenn es in der Antike schon vermutet wurde.
Bruch mit mittelalterlicher Scholastik
Anstoß erregte der Domherr des Fürstbistums Ermland nicht, wie später sein Verteidiger Galilei. So berichtet 1533, zehn Jahre vor Erscheinen von Kopernikus Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium (Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären), der deutsche Jurist Johann Albert Widmannstadt bei einem Spaziergang in den vatikanischen Gärten Papst Clemens VII. über die Entdeckung der Drehung der Erde um sich selbst und um die Sonne. Es ist nicht klar, was der Papst hier genau erfahren hat, aber Widmannstadt bekam als Geschenk für die Mitteilung ein griechisches Pergament, auf dem der Grund des Treffens samt der Zeugen aufgeführt wurde.
Der Papst schien gegen das Erfahrene nichts einzuwenden haben. Die Neuzeit allerdings sah in der Entdeckung des Kopernikus den Bruch mit der mittelalterlichen Scholastik und zugleich der Antike. Blickt man genau hin, war Kopernikus tatsächlich revolutionär und hat die sogenannte kopernikanische Wende vollzogen. Denn nach dem klassischen durch Aristoteles bis ins Mittelalter vertretenen Weltbild der Himmelssphären wird die Natur durch den letzten Beweger, den Gott des Aristoteles, angetrieben. Bei Aristoteles war der unbewegte Beweger auf der äußeren Himmelsschale und drehte als selbst unbewegtes ruhendes Sein die inneren Schalen.
Dezentralisierung des alten anthropozentrischen Weltbildes
Diese Sicht hat Kopernikus definitiv beendet und das Zentrum der Bewegung nach innen in den neuen Mittelpunkt des damaligen Kosmos verlegt, zur Sonne. Damit hat er allerdings auch eine frühe postmoderne Tat vollzogen, nämlich die Dezentralisierung des alten anthropozentrischen Weltbildes, wonach die Erde und der ganze Mensch nun nicht mehr im Mittelpunkt stehen. Oder wie es der Philosoph Hans Blumenberg formulierte: "Die Unerträglichkeit einer solchen Umkehrung für die Scholastik und ihre kosmologische Metaphysik ist handgreiflich. Das konnte sich sehen lassen als Paradigma für die Gewinnung der Immanenz, für die Abschirmung der Natur gegen transzendente Ungewissheiten und Eingriffe. Der bewegte Himmel als bloße Spiegelung der an die Erde gebundenen Realität - das war ein unverkennbarer Leitfaden zu Folgerungen." Die heilsgeschichtliche Oben-Unten-Sicht des Mittelalters, wonach die Erdscheibe der Ort der Bewahrung wie aber auch der Versuchung des Menschen war, wurde aufgelöst in eine letztlich immanente Einheit von Immanenz und Transzendenz, wie sie später auch in der Philosophie zum Thema wird.
In der Wert- und Weltbetrachtung des Kopernikus spielt auch ein weiterer Gesichtspunkt eine Rolle. Kopernikus verbindet nämlich den mathematischen Begriff mit der ästhetischen Anschauung, die sich wechselseitig ergänzen. Mit Blick auf die Sonne im Mittelpunkt des damaligen Kosmos schreibt Kopernikus, "denn wer möchte ihr in diesem herrlichen Tempel des Universums einen anderen und besseren Platz geben als diesen, von welchem aus sie das All in jener Gesamtheit zu erhellen vermag? So hat man sie nicht mit Unrecht die Leuchte der Welt, die Seele und den Lenker des Alls, den sichtbaren Gott genannt. Von ihrem Königssitz aus beherrscht sie die Schar der Gestirne, die sich um sie herumschwingen, so dass sich uns in dieser Ordnung eine wunderbare Symmetrie der Welt und eine feste harmonische Verknüpfung zwischen der Bewegung und Größe der einzelnen Himmelskreise zeigt, wie sie nirgends sonst gefunden werden kann". Das bedeutet mehr als einen Wandel im Verständnis der Natur, vielmehr hat sich die objektive Wirklichkeit gewandelt, was Auswirkungen bis in die Literatur und spätere Geisteswissenschaften gehabt hat.
Kant machte "Kopernikanische Wende" bekannt
Johannes Kepler (1571-1630) wird die soeben errungene Weltsicht bereits als eine neue ethische Sicht auf das Leben ansehen und von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit von einer fortlaufenden "Erziehung des Menschengeschlechts" sprechen. Für Kepler stand auch fest, dass sich das Verhältnis von Himmel und Erde nicht mehr umkehren lässt. Auch Goethe äußerte sich ausführlich zum Kopernikanischen Weltbild: "Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen; denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte." Und schon zuvor hatte Galilei den naiven Realismus entlarvt, dem selbst der Augenmensch Goethe nicht auf den Leim ging: "Man glaube nicht, dass es, um die tiefen Begriffe zu fassen, die in jenen Karten des Himmels geschrieben stehen, genügt, den Glanz der Sonne und der Sterne in sich aufzunehmen und ihren Auf- und Niedergang zu betrachten: denn dies liegt auch vor den Augen der Tiere und denen des ungebildeten Haufens offen zutage."
Bleibt noch der Blick auf Kant, durch den der Ausdruck der "Kopernikanischen Wende" bekannt wurde - weniger bekannt ist, dass er den Ausdruck nie benutzt hat. Kant war in der misslichen Lage, dass ihm bewusst wurde, dass die erste Fassung seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781, die er im Anschluss an den Empirismus von Locke und Hume geschrieben hatte, nur unzureichend verstanden wurde; ein Umstand, der sich bis heute nicht grundsätzlich geändert hat. Darum entschied er sich, in der zweiten Fassung der Kritik 1787 für sein eigenes verändertes Wissenschafts- und Weltbild eine Verstehenshypothese anzuführen, die auch für Kopernikus selbst zunächst eine Hypothese gewesen sei. Denn so wie sich bei Kant die Gegenstände nach den Erkenntnisformen a priori zu richten hätten, so sei es auch mit dem Gedanken des "Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ".
Ein Stern unter Sternen
Diese sogenannte Kopernikanische Wende nennt Kant die "Umänderung der Denkart", die auch zur Entdeckung der Newtonschen Gravitation führte, weil Kopernikus es gewagt hatte, "auf eine widersinnische, aber doch wahre Art" die Himmelsbewegungen zu erklären. Was Kant mit seiner veränderten Denkart gelang, war, wie wir schon von Kepler und Goethe wissen, die Begründung von Moral und Freiheit, die so nicht möglich geworden wäre, wenn Kant nicht das, "was wir theoretisch erkennen können, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte". Durch diese Selbstbeschränkung der Vernunft eröffnete Kant gerade durch die Theorie das Feld des Übersinnlichen, das die Religion ausfüllt.
Letztlich hatte Kopernikus auch aus dem Erdschatten bei Mondfinsternissen gefolgert, dass die Erde eine Kugelgestalt haben müsse; in dieser reflexiven Optik, wie Hans Blumenberg formuliert, ist damit die Erde zu einem Stern unter Sternen geworden. In diesem neuen Weltbild mit dem "Mutterschiff Erde" ist die Erde nur noch ein Stützpunkt für die Invasionen des Menschen in den Weltraum.
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