Arvo Pärt, der am 11. September in Paide geborene estnische Komponist, ist eine Ausnahmeerscheinung unter den Meistern der sakralen Tonkunst. Er gilt als Vertreter der neuen Einfachheit. Aber dieses Diktum ist fragwürdig. Denn was Pärt kreiert, ist keineswegs schlicht, sondern von hoher Komplexität. Was Pärt von anderen zeitgenössischen Komponisten unterscheidet ist, dass er seine Musik in radikaler Weise aus seinem Christsein heraus entfaltet.
Dabei war ihm diese Ausrichtung durch Herkunft und Umfeld nicht in die Wiege gelegt. Sein musikalisches Talent zeigt sich früh und er wurde von seinem siebten Lebensjahr an ausgebildet. Seine erste Komposition entstand, als er 14 war, und mit 19 begann er, Musik zu studieren, darunter in Tallin Komposition bei Veljo Tormis und Heino Eller. Deren Prägung zeigt sich an Pärts neoklasssischem Frühwerk, beeinflusst durch die Tonsprache Schostakowitschs, Prokofjews und Bartóks, deren Wirkung von einer Beschäftigung mit Schönbergs Zwölftontechnik und dem musikalischen Realismus abgelöst wurde. Aber all das war Teil einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung.
Pärt macht die Botschaft Jesu Christi hörbar
Wie das zu verstehen ist, erklärt Pärt selbst anhand eines seiner zentralen Werke, „Credo“, dass er sowohl als Glaubensbekenntnis, als auch als politisches Statement verstand. Dieses Zeugnis eines Glaubens in schwieriger Zeit entstand – kein Zufall – 1968 und bildet den Gipfelpunkt von Pärts erster Schaffensperiode. Er arbeitet in dieser Komposition für Klavier, gemischten Chor und Orchester mit dem Stilmittel der Collagen. Ein Element ist dabei das Präludium C-Dur von Johann Sebastian Bach aus dem Wohltemperierten Klavier, das vielen heute auch durch die Kontrafaktur Charles Goudnods als „Ave Maria“ bekannt ist. Auch dies ist kein Zufall, ebenso wenig die Tatsache, dass Pärt sich dafür entschied, nicht den gesamten Credo-Text zu vertonen, sondern sich auf den zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses „Credo in Jesum Christum“ zu fokussieren.
Seine Komposition macht die Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu Christi hörbar, wie Pärt in einer Erläuterung zu „Credo“ ausführt: „Der Kerngedanke des Christentums ,Liebet eure Feinde‘ hat mich in den 60er Jahren derart fasziniert, dass aus ihm meine Komposition Credo geboren wurde. Das Werk besteht aus zwei musikalisch gegensätzlichen, aufeinanderprallenden Welten. […] Ich wollte mit der einer Kettenreaktion gleichenden, unaufhaltsamen Entfaltung des Werkes zeigen, wie das Postulat ,Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, so harmlos es in seinem Anfangsstadium auch erscheinen mag, erst nach und nach sein wahres Gesicht in voller destruktiver Dimension zeigt, eine Entwicklung von Gewalt, die – wie eine Lawine – an ihre eigenen Grenzen stößt. Was wir zunächst als menschliche Gerechtigkeit empfinden, kehrt sich letztlich in ihr Gegenteil. Widersteht nicht dem, der böse ist. ,Liebet eure Feinde‘, etwas Radikaleres und Rätselhafteres als diese Worte Christi, die beinahe die Grenzen unseres Verstandes sprengen, gibt es nicht.“
Eine Frau im Mittelpunkt
Wie sehr dies gilt, wird in Pärts „Credo“ geradezu physisch erlebbar. Denn die Himmelsklänge des Bach'schen Präludiums, die so sehr mit der Anrufung Marias als unsere Fürsprecherin auf dem irdischen Lebensweg assoziiert sind, werden mit aggressiven Zwölftonstrukturen und aleatorischen Abschnitten kontrastiert, die die Unvereinbarkeit dieser beiden Welten wirksam erlebbar machen. Dass Pärt die Anrufung Marias zum Kern seines auf den Glauben an Jesus Christus konzentrierten klingenden Glaubensbekenntnisses macht, ist paradigmatisch. Denn er zeigt so auf, dass wir durch Maria zu Christus gelangen und stellt eine Frau in den Mittelpunkt, die, bis zuletzt bei ihrem Sohn unter dem Kreuz ausharrend, wie keine andere zeigt, wie die Nachfolge Jesu aussieht und wohin sie uns führt. Kein Wunder, dass Pärt sich mit einem solchen Werk bei den sowjetischen Kulturfunktionären nicht beliebt machte. Er emigrierte 1971 nach Wien, lebte ein Zeit lang in Berlin, kehrte dann aber wieder in seine Heimat Estland zurück.
Das Gewebe des Grabtuchs als Klangteppich übersetzt
Die von Pärt in der Frühphase seines Schaffens ab 1962 entwickelte Collage-Technik ist, wenngleich er sie nicht auf Dauer anwendete, zeitgeschichtlich von hohem Interesse. Denn gerade in einem Augenblick, in dem der Mainstream der zeitgenössischen Tonkünstler sich klanglich und kompositionstechnisch so weit wie nur möglich von ihren musikalischen Vorfahren entfernte, bezog Pärt sich in einer Form auf sie, die jener gleicht, in der die Vertreter der monastischen Theologie ihre Werke schufen. Ihn selbst führte seine Suche nach den Klangspuren des Glaubens in dessen Mitte und Pärt trat Anfang 1970 in die russisch-orthodoxe Kirche ein.
In den darauffolgenden Jahren beschäftigte er sich intensiv mit dem Gregorianischen Choral, der Schule von Notre Dame, jenen ersten mehrstimmigen Kompositionen, die einem musikalischen Amplexus gleich ausgerechnet in jener Zeit entstanden, in der die monastische von der scholastischen Theologie abgelöst wurde, und vertiefte sich in die Gesetzmäßigkeiten der klassischen Vokalpolyphonie durch das Studium der Werke der Renaissancemeister. Sein ganz persönliches Klangidiom, das er Tinntinnabuli-Stil nannte, reduziert das Klangmaterial auf das absolut Wesentliche, den Dreiklang, der zugleich für das Ineinanderschwingen des dreifaltigen Gottes steht. Im bewussten Rückbezug auf alte Kompositionstechniken wie den Proportionskanon entstanden so scheinbar schlichte, in ihrer Komplexität jedoch zur Betrachtung einladende und im Hören den inneren wie äußeren Raum weitende Klanggebilde.
Der Blick auf den Gekreuzigten
Der Blick auf den Gekreuzigten ist dabei ein Motiv, das sich durch das Schaffen des estnischen Tonkünstlers verfolgen lässt. „La Sindone“ von Arvo Pärt entstand anlässlich der Ausstellung des Grabtuches von Turin. Das dreiteilige Werk für Orchester und Schlagzeug wurde am 15. Februar 2006 im Turiner Dom vom Estonian National Symphony Orchestra unter der Leitung von Olari Elts uraufgeführt. Das Werk entstand als Auftragskomposition für das kulturelle Begleitprogramm der Olympischen Winterspiele Turin 2006 und ist dem Leiter des Musikfestivals, Enzo Restagni, gewidmet.
Die Erstaufführung in Deutschland erfolgte am 24. Februar 2007 durch die Hamburger Symphoniker in der Laeizhalle in Anwesenheit des Komponisten. Pärt schuf mithilfe musikalischer Assoziationen einen Raum der Annäherung an das Geheimnis des Sterbens und Auferstehens Jesu Christi und ließ sich dabei von den Wegen des Grabtuches von Jerusalem über Edessa, Konstantinopel und Frankreich bis nach Italien inspirieren. Zugleich geht Pärt das Wagnis ein, das Gewebe des Tuches mit seinen Abdrücken gewissermaßen in ein Klangbild zu übersetzen und lässt so ein musikalisches Porträt entstehen, das nicht nur eine Annäherung, sondern mit dem ganzheitlichen Sinn des Hörens ein Eintauchen in das Geheimnis ermöglicht. Wer sich „La Sindone“ anhören möchte, kann dies auf Youtube tun.
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