Die katholische Akademie in Bayern widmet sich in ihrer Vortragsreihe zu Kunst und Kultur regelmäßig auch Einzelwerken der geistlichen Musik. Kürzlich stand das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms auf dem Programm, welches vor rund 150 Jahren uraufgeführt wurde. Wiewohl sich darin kein direkter Christusbezug befindet, wird es aufgrund seiner inneren Symmetrie und der engen musikalischen Bezüge der Einzelsätze zu Recht als eines der Hauptwerke protestantischer Kirchenmusik gefeiert. Als Vortragender konnte der Musikdirektor der Münchner Bürgersaalkirche gewonnen werden, Professor Michael Hartmann.
Die „Elf Choralvorspiele“ sind deutlich christlich
Ehe sich der Kirchenmusiker an eine musikalische Analyse mit Hörbeispielen machte, kreiste der Vortrag im voll besetzten Saal des Kardinal-Wendel-Hauses in München-Schwabing zunächst um die recht verwickelte Entstehungsgeschichte des Werks. Schon der Titel ist widersprüchlich, denn es handelt sich beim „Deutschen Requiem“ nicht um die bloße Übersetzung der lateinischen Totenmesse ins Deutsche. Vielmehr lädt das Werk zur Besinnung und Meditation über den Sinn menschlichen Strebens und den Tod als letztendliche Bestimmung aller Seienden; durchaus ein Thema für die Fastenzeit also. Als textliche Grundlage dienten Brahms Textstellen aus der Heiligen Schrift, welche der Komponist anhand seiner Lutherbibel nach eigenem Geschmack zusammenstellte und in Musik setzte. Nicht zuletzt dadurch trägt das „Deutsche Requiem“ eher oratorienhafte Züge und steht damit frühen evangelischen Passionsmusiken und Motetten nahe.
Der genaue Ursprung des OEuvres liegt im Dunkeln. Hartmann schließt sich der aus Brahms' Umkreis überlieferten Legende an, der leidvolle Tod Robert Schumanns 1856 sei der entscheidende Anlass für den 23-jährigen Komponisten gewesen, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Demnach wären die langsamen Schreitbewegungen des zweiten Satzes die Keimzelle des Werks. Unter dem Eindruck des in völliger geistiger Umnachtung im Irrenhaus Sterbenden habe Brahms unter einem ursprünglich für eine Klaviersonate konzipierten Trauermarsch die Apostelworte notiert: „Denn alles Fleisch es ist wie Gras“ (1 Petr 1,24). Gesichert ist, dass der Komponist ab 1861 die Texte für die ersten Sätze seines Requiems zusammentrug. Brahms richtete dabei sein Augenmerk auf den Trost der Hinterbliebenen. So entstand damals auch der programmatische Eröffnungssatz des gesamten Werkes „Selig sind, die da Leid tragen“ (Matth 5,4). Sicherlich war der Verlust der eigenen Mutter am 2. Februar 1865 ein ausschlaggebendes Motiv, die Arbeit am „Deutschen Requiem“ zu intensivieren. Nur drei Monate später vollendete Brahms den vierten Satz („Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“; Ps 84,2). Einen Klavierauszug davon sandte er an Schumanns Witwe Clara; für die Ausnahmepianistin hegte der Komponist eine allerdings unerfüllte Liebe. 1866 entstanden drei weitere Sätze, darunter der Schlusssatz, in welchem Brahms mit den der Apokalypse des Johannes entnommenen Worten „Selig sind die Toten“ (Off 14,13) den inhaltlichen Bogen zum Anfang schlug.
Die Uraufführung dieser sechs Sätze fand am Karfreitag, den 10. April 1868, im Bremer Dom statt. Der heutzutage an fünfter Stelle aufgeführte Satz „Ihr habt nun Traurigkeit“ (Joh 16,22) wurde erst nachträglich in das Werk eingeschoben. Viel wurde darüber spekuliert, warum Brahms das Werk nachgebessert hat. Schon im Vorfeld der Bremer Erstauffassung hatte der seinerzeit mit der Einstudierung beauftragte Domkapellmeister die aus pietistisch-theologischer Sicht vernichtende Kritik angemahnt: Dem Werk mangele es „an christlichem Bewusstsein“, da jeglicher Hinweis auf den Erlösungstod des Herrn fehle und auch nirgends der Name Jesu Christi auftauche. In seinem Antwortbrief vom 9. Oktober 1867 zeigte sich der überzeugte Protestant, der laut eigenem Zeugnis den inneren „Theologen … nicht los werden“ konnte, verstockt. Die Auslassung sei nicht etwa versehentlich, sondern im Gegenteil absichtsvoll, „mit allem Wissen und Willen“ geschehen, weswegen er auch eine angefragte, dahingehend nachbessernde Erweiterung seiner Komposition rundherum ablehnte. Um den Mangel auszugleichen, ergänzte der brave Domkapellmeister die Erstaufführung des Requiems mit Stücken unumstritten christlicher Kollegen; unter anderem Händels Messias-Arie „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet“. Brahms erhob keine Einwände. Öffentlich hat er sich nie zur Frage der Göttlichkeit Jesu geäußert. Daraus könne man aber – wie Professor Hartmann beteuerte, der einen Doktortitel in Fundamentaltheologie führt – „keine antichristliche oder indifferente Haltung seitens des Komponisten“ ableiten. In seinem Vortrag verwies er auf Brahms' letzte Komposition, die „Elf Choralvorspiele“, die beredt für dessen christliches Selbstverständnis sprächen. Das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts war wohl auch nicht mehr die Zeit für große dogmatische Forderungen. Im Gegensatz zu etwa Mozarts Vertonung war das „Deutsche Requiem“ nie dazu gedacht, im Rahmen eines Gottesdienstes aufgeführt zu werden. Auch Verdis nur wenige Jahre später uraufgeführte opernhafte „Messa da Requiem“ entstand nicht mehr für den alltäglichen liturgischen Gebrauch, sondern als Monument einer musikalischen Gattung.
Brahms indes ergänzte sein „Deutsches Requiem“ doch noch einmal. Der pietistischen Kritik ungeachtet, entstand ein trostverheißender Dialog zwischen Solo-Sopran und Chor; verinnerlichtes religiöses Gefühl statt theologisch gebotener Christusbezüge. In dieser heute noch gültigen, siebensätzigen Form wurde es am 18. Februar 1869 im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt. Brahms traf damit den Geist der Zeit. An die Stelle einer an den christlichen Erlösungsgedanken gebundenen Totenmesse tritt im „Deutschen Requiem“ ein breites Band menschlicher Empfindungen im Trauerfall, Ausdruck eines allgemein gültigen, individuellen Bedürfnisses von Spiritualität. Gerade dadurch aber, so Hartmann, vermag das Werk überkonfessionell anzusprechen und auch Juden und Nichtgläubige zu berühren. Das „Deutsche Requiem“ ist eben kein Requiem. Und was daran ist deutsch? Auf den Titel seines Werkes angesprochen meinte Brahms, „dass ich recht gern auch das ,Deutsch‘ fortließe“. Statt dessen wollte er einfach „den Menschen“ setzen.
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