Chur

„Keine Offenbarung, kein Gott“

Der Schweizer Schriftsteller Giuseppe Gracia hat einen neuen Roman geschrieben: „Der letzte Feind“. Er handelt von der Kirche und einem vermeintlich perfekten Plan. Ein Gespräch über Herrschaftswünsche, verschiedene katholische Weltbilder und instituionellen Narzissmus.
Der Schweizer Schriftsteller Giuseppe Gracia
Foto: Archiv | "Wenn die Kirche statt über eigene Reformen über die herrschende Gegenwartskultur sprechen würde, könnte sie als globale Kraft den Menschen wieder geistliche Nahrung bieten, einen Kompass für die Herzen", meint der ...

Herr Gracia, Ihr neuer Roman trägt den Titel „Der letzte Feind“. Schon Ihre früheren Bücher beweisen, dass Sie den Mut haben, unverblümt heiße Themen anzupacken. Was gab diesmal den Ausschlag?

Ich habe Romane über Fremdarbeiter in der Schweiz geschrieben, über Liebe, Freundschaft, Terror. Aber nie über die Kirche. Das wollte ich nun wagen, in Form eines Thrillers. Jedoch nicht wie Dan Brown, der wohl wenig von Katholizismus und Christentum versteht. Ich wollte möglichst viel Substanz bieten. So, dass auch Kirchenferne fasziniert sein können. Ein Pageturner mit Tiefgang, das war das Ziel.

Das ist Ihnen gelungen. Welche Rolle spielte für Sie der gegenwärtig weltweite Kampf zwischen Humanismus und einer vermeintlich totalen Herrschaft?

Im Roman ist die Rede von einem „digitalen Turmbau zu Babel“ im Zuge der Globalisierung. Es heißt, die Erbauer dieses Utopia hätten „den Eckstein der Erbsünde verworfen“. Das bringt es auf den Punkt: Das Versprechen unserer Zeit ist ein transnationales Wohlstands-Paradies ohne Christentum, auf der Grundlage eines sich selbst erlösenden, digital gerüsteten Menschen. Keine Offenbarung, kein Gott. Aber kann eine solche Gesellschaft überhaupt frei sein und wirklich menschlich bleiben? Das ist die Frage, um die sich der Roman dreht.

„Dass es einflussreiche Kreise gibt,
die versuchen, die Menschheit im Sinn globalistischer
Ideen zu verbessern, ist keine Verschwörungstheorie,
sondern Tatsache“

In Ihrem Thriller versucht eine NGO, die „Humanitarian Foundations“, die Weltpolitik zu ihren Gunsten zu manipulieren. Fühlen Sie sich von den momentan grassierenden Verschwörungstheorien bestätigt?

Dass es einflussreiche Kreise gibt, die versuchen, die Menschheit im Sinn globalistischer Ideen zu verbessern, ist keine Verschwörungstheorie, sondern Tatsache. Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han spricht von einer Herrschaft der Optimierung, sekundiert von Menschenbörsen, Krippen und chemischen Mitleidstötungen für das nach-produktive Alter. Wissenschaft und Forschung als Potenzmittel des Handels, die Politik als Gouvernante und Human-Ressources-Abteilung. Wer im Sog dieser Totalverwertung des Lebens nicht mithalten kann, oder wer sich verweigert, den erwartet die Gnadenlosigkeit des positiven Denkens. Eine „Du-schaffst-es“-Industrie, die auf allen Kanälen Scheinkommunikation, Scheinerlebnis, Scheinauthentizität sendet.

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Sie nennen den Papst in Ihrem Buch Pius XIII., welchen Bezug wollen Sie damit herstellen?

Ich wollte einen Papst, der aus der Kraft der Tradition heraus versucht, die Kirche gegen die Totalverwertung des Lebens in Stellung zu bringen. Eine Kirche, die den Menschen auch gegen moralisch-pädagogisch auftretende Staatsmächte schützt, die zunehmend in die Rolle von Aposteln und Propheten schlüpfen. Eliten, die sich humanistisch geben, in Wahrheit aber nicht den realen Menschen lieben, sondern nur ihre eigene, utopische Vorstellung.

Welche Vorstellung?

Der Mensch ohne Erbsünde, ohne Erlösungsbedürftigkeit. Der Mensch als sein eigener Schöpfer. Aber dazu muss die Menschheit eben zuerst verbessert und optimiert werden, durch Transhumanismus und andere Techniken. Die großen Weltverbesserer der Geschichte hatten immer den perfekten Plan. Sie waren keine Liebhaber des Lebens an sich. Sie liebten nur ihr Ideal. Und weil die meisten von ihnen, wie auch heute, vermögend waren, konnten sie ihre Visionen lange vor den Zumutungen der Realität abschirmen. Im Privatpark einer Villa lässt sich prächtig über das Hohe und Edle sinnieren.

Der Papst in Ihrem Roman kritisiert auch die Kirche und nennt sie „ein krankes Kind (…) das um die eigene Befindlichkeit kreist“. Ist die Kirche zu einem sozialpädagogischen Institut degeneriert?

Das würde ich nicht sagen. Aber sie kreist viel um sich selbst, um interne Fragen des Lehramts oder der kirchlichen Ordnung. Ein institutioneller Narzissmus, wenn Sie so wollen. Der Papst in meinem Roman möchte, dass die Kirche sich selber nicht mehr zum Thema macht, die eigenen Probleme, welche die Medien gern breitwalzen. Sondern die Kirche soll über die postchristliche Gesellschaft da draußen reden, über die Chancen und Gefahren der Millionen von Menschen jenseits kirchlicher Strukturen.

Wäre das auch das Programm Ihres Wunsch-Papstes in der Wirklichkeit?

„Die Kirche sollte Gott und die Sehnsucht nach wahrer,
ewiger Liebe hineintragen in den Jahrmarkt der Welt“

Warum nicht? Die Kirche sollte Gott und die Sehnsucht nach wahrer, ewiger Liebe hineintragen in den Jahrmarkt der Welt. Sie sollte diesen Jahrmarkt zum Thema machen, wie Paulus auf dem Areopag die falschen Götter. Sie sollte die falschen Versprechen der heutigen Zeit entlarven und die wahre Hoffnung sichtbar machen. Wenn die Kirche statt über eigene Reformen über die herrschende Gegenwartskultur sprechen würde, könnte sie als globale Kraft den Menschen wieder geistliche Nahrung bieten, einen Kompass für die Herzen. Sie könnte zeigen, dass es nicht unsere Bestimmung ist, einfach aufzugehen in den Erfordernissen einer säkularen Existenz zwischen Leistung und Konsum.

Eine Ihrer Hauptfiguren ist Kardinal Feuerbach. Die Assoziation mit dem Religionskritiker aus dem 19. Jahrhundert ist gewollt?

Der Name schien mir ideal für das progressive Lager in der Kirche. Feuerbach ist sehr leidenschaftlich, wenn es um Kirchenreformen geht, und schleudert auf alle, die ihm widersprechen, den „bösen Blick des Fortschritts“, wie es im Roman heißt. Ein idealer Kontrast zu seinem eher melancholischen Gegenspieler, Kardinal Settaviani. Der möchte nicht die katholische Kirche an die Welt anpassen und damit heilen, sondern er möchte die Herzen der Menschen an Gott anpassen und damit heilen.

Was glauben Sie persönlich, welchen Weg wird die Kirche einschlagen? Wird es tatsächlich ein drittes Vatikanisches Konzil geben, wie in Ihrem Roman?

Schwer zu sagen. Ich hoffe, die Kirche kann sich lösen von den immer gleichen internen Streitigkeiten, die am Ende nur den Medien dienen, die vom Konflikt leben. Es ist ein Trauerspiel. Die progressive Seite denkt: „Wir stärken die Liebe und verbessern die Gesellschaft, wenn wir das Evangelium und die Lehre der Kirche vom Standpunkt der Gegenwartskultur her in Frage stellen.“ Die traditionsverbundene Seite denkt: „Wir stärken die Liebe und verbessern die Gesellschaft, wenn wir die Gegenwartskultur in Frage stellen, vom Standpunkt des Evangeliums und der Lehre der Kirche aus.“ Zwischen diesen beiden Sichtweisen liegen Welten!

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Eine Ihrer Hauptfiguren, Alexander Martens, Leiter eines Instituts, der NGO „Humanitarian Foundations“, bekommt Gewissensbisse: „Ein Anschlag in dieser Größenordnung, am dritten Tag des Konzils? Ein toter Papst im Namen des Islam, eine aufgewühlte Weltöffentlichkeit“ – um mit dem Antagonisten zu fragen: „Schießen Sie hier nicht übers Ziel hinaus?“

Alexander Martens ist der Archetyp des modernen, technizistischen Weltverbesserers. Er hasst die Kirche und das Christentum. Er sieht in allen großen Religionen nur primitive, patriarchale Machtsysteme. Für ihn ist die Religion der erste und der letzte Feind des Fortschritts.

Als katholischer Romancier, der sich dem Kriminalroman verbunden sieht, stehen Sie in der Tradition von Graham Greene, als Schweizer von Friedrich Dürrenmatt. Wem sehen Sie sich mehr verbunden?

Dürrenmatt kenne ich besser als Greene. Ich höre ihn aus dem Jenseits noch immer lachen. Tränen lachen. Ich weiß, dass er lange an seinen Texten gefeilt hat. Ich feile ebenfalls lange. Ich schwitze und bin nie zufrieden. Das soll man beim Lesen aber nicht merken. Am Ende muss alles leicht und mühelos daherkommen, zum Lesen ein Genuss. Das ist, jedenfalls für mich, harte Arbeit. Oder mit den Worten von Nicolás Gómez Dávila: „Wer seine Sätze nicht foltert, foltert seine Leser.“

Hintergrund

Giuseppe Gracia, Jahrgang 1967 in St. Gallen als Sohn eines sizilianischen Vaters und einer spanischen Mutter geboren, ist Schriftsteller, Journalist und Kommunikationsberater. Seit 2019 ist er Sprecher von Bischof Peter Bürcher im Bistum Chur. Gracia schreibt Beiträge in renommierten Medien wie NZZ, Focus Online oder "Achse des Guten". Seit 2018 ist er Kolumnist für die Schweizer Zeitung "Blick". Tiefgründige Zeitkritik bestimmt sein Werk ebenso wie sein katholischer Glaube. Im neuen Roman "Der letzte Feind" geht es um eine Welt, die aus den Fugen geraten ist, und eine Kirche, die sich in tiefe Grabenkämpfe verstrickt.

Giuseppe Gracia: Der letzte Feind. Roman,
fontis, 06/2020, ISBN: 9783038481966, EUR 18,90

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