In der Philosophiegeschichte Europas gibt es zwei sehr unterschiedliche Traditionen, wenn es um die Frage geht, ob es möglich ist, mit den Mitteln des Verstandes ein Wissen von Gott zu erreichen. Platon und Aristoteles waren überzeugt, dass von allem, was der Mensch wissen kann, das sicherste Wissen das Wissen von Gott ist. Er war für sie Inbegriff einer für alle gleich gültigen Vernunft, auf die sich daher jeder stützen musste, wenn er überhaupt etwas erkennen und mit anderen teilen wollte. Diese Ansicht teilten die meisten Philosophen und Theologen in der griechisch -römischen Spätantike, die arabisch-persisch jüdischen Philosophen schlossen sich dem an und auch die christlichen Theologen des Mittelalters glaubten, gute Gründe für diese Überzeugung zu haben.
Es entwickelten sich aber gleich nach dem Tod des Aristoteles drei Philosophenschulen, die die Überzeugung vertraten, Wissen gebe es nur von dem, was man sehen, hören, riechen (…) könne. Alle unsere Begriffe müssten sich an diesen Sinneseindrücken orientieren. Was sich an ihnen nicht „verifizieren lasse, sei kein möglicher Gegenstand des Wissens. Diese Schulen, die Skeptiker, Stoiker und Epikureer, beherrschten von 300 vor bis etwa 100 nach Christus die antiken Diskurse. Dann wurden sie bis etwa 1300 von den platonisch-aristotelischen Schulen zurückgedrängt. Sie wurden aber in der Renaissance wiederentdeckt und mit Begeisterung neu aufgenommen.
„Bedenkt man, dass auch wir uns als Subjekt und Person verstehen,
weil wir mit Vernunft uns selbst erkennen und bestimmen können, liegt fast auf der Hand, dass man auch eine für alle verbindliche Vernunft nur als etwas denken kann, was sich selbst kennt und sich selbst bestimmt, also als Person“
Wer einen „modernen“ Standpunkt vertreten möchte, hält sich bis heute an dieses Prinzip der Verifizierung und besteht darauf, dass es von Gott kein Wissen geben könne. Als Wissenschaftler könne man an einen Gott nur glauben, wenn man bereit sei, einem Grundbedürfnis der Vernunft zu folgen, dass das viele aus der Verarbeitung der beobachtbaren Dinge gewonnene Einzelwissen in einem einheitlichen System zusammenfassen möchte. Diesem Vernunftbedürfnis entspricht in der Meinung vieler auch ein allgemeines menschliches Gefühl für das Ganz und Unendliche, in dem man alle Vielheiten der Welt zu umfassen und auf ein einheitliches göttliches Wesen zurückzuführen versucht.
Gerade in den letzten Jahren gibt es eine neue Tendenz, den Glauben an Gott neu auf Bedürfnisse dieser Art zurückzuführen und dadurch zu rechtfertigen. Wirklich erfolgreich waren diese Versuche nicht, die meisten Menschen sind sich, spätestens wenn sie anfangen, sich erwachsen zu fühlen, sicher, dass der Glaube an Gott durch die Wissenschaft überholt sei.
Ständig neue Einwände
Prüft man diese Kritik im Bereich der Wissenschaften selbst, kann man feststellen, dass die Überzeugung, man müsse alles theoretische Wissen an den wirklichen Dingen selbst überprüfen, auf einer Grundannahme beruht, die keineswegs sicher ist und daher auch ständig neuen skeptischen Einwänden ausgesetzt war.
Woher weiß ich denn, dass das Ding, das ich in der Wahrnehmung vor mir habe, wirklich eine Blautanne, ein Backofen oder ein Virus ist? Zumindest muss man annehmen, dass wir das Ding, das ja nur außerhalb unseres Denkens existiert, von uns korrekt und vollständig wahrgenommen und auch richtig im Denken vorgestellt – „repräsentiert“ – ist. Deshalb hat man nach ganz ursprünglichen Erfahrungen gesucht, in denen die Dinge noch rein als sie selbst von uns aufgefasst und noch gar nicht durch mögliche Meinungen oder Begriffe von uns entstellt sind.
Vorbewusste Erfahrungen führen nicht weiter
Man suchte mit anderen Worten nach einer „unmittelbaren Bekanntschaft“, einem „immediate acquaintance“‘ (Russell), weil man meinte, nur so die Dinge rein als sie selbst aufgefasst zu haben. Kandidaten für solche Bekanntschaften waren die Sinne, die Empfindungen, die sensations, impressions, sinnliche Gewissheiten, Erlebnisse, Intuitionen, Gefühle. Alle diese Erfahrungen sind un- oder vorbewusst, es soll ja noch kein Denken in sie eingegriffen haben, von ihnen wissen wir daher nur, dass wir sie haben. Kontrollieren können wir sie nicht, und wir wissen auch dann erst etwas von ihrem Inhalt, wenn wir sie uns in der Vorstellung im Einzelnen verdeutlicht und bewusst gemacht haben.
Da wir aber nur diese Bekanntschaften als Grundlage für die Überprüfungen, Verifizierungen unserer Meinungen oder Begriffe haben, bleiben sie alle dem skeptischen Verdacht ausgesetzt, auch nur subjektiven Erlebnischarakter zu haben. Formuliert man diesen Verdacht aus, dann lautet er: Ist das unmittelbar Bekannte wirklich rein und nur das Ding selbst („an sich“) oder ist es schon verfälscht?
Platon und Aristoteles waren dem Ziel ganz nah
Es ist genau diese Frage, die sich auch Platon und Aristoteles gestellt haben, deren Beantwortung sie aber zu einem ganz anderen Ergebnis geführt hat. Nimmt man zum Beispiel ein ganz einfaches den Sinnen vorliegendes Ding, etwa einen Kreis im Sand, dann sieht man sofort, dass dieses Ding zwar wie ein Ding aussieht, eben wie ein Kreis, dass es aber eine Verbindung aus zwei Dingen ist. Man dürfte also gar nicht alles von ihm in seinen Begriff aufnehmen, sonst würde man dem Kreis zum Beispiel runde, braune Körner zuschreiben. Das machen wir beim Kreis nicht, wenn man aber komplexere Dinge aus dem, was sie einer direkten Bekanntschaft zu erkennen geben, wissenschaftlich erschließen möchte, passieren einem Beobachter leicht viele Fehler. So sind etwa viele Europäer früher auf den Gedanken gekommen, die weiße Farbe, die sie an vielen Menschen sehen konnten, gehöre zu ihrem Menschsein selbst.
Woher wissen wir, dass wir die weiße Farbe nicht in den Begriff des Menschseins aufnehmen dürfen? Offenbar weil es Menschen gibt, die nicht eine weiße Farbe haben und weil es weiße Gestalten (etwa bei Madam Tissot in Wachs) gibt, die nicht Menschen sind.
Denken als Befähigung zur Gotteserkenntnis
Formuliert man dieses Problem logisch aus, dann muss man darauf bestehen, dass etwas, was zugleich etwas ist und nicht ist, uns anzeigt, dass man es nicht mit einem einfachen Ding, einem einfachen Sein zu tun hat, sondern mit mehrerem, das unter verschiedene Begriffe gebracht werden muss. Daraus haben Platon und Aristoteles geschlossen, dass es das Grundbedürfnis jedes Denkens ist, etwas als ein bestimmtes Etwas zu erkennen.
Bereits diese noch ganz einfache Einsicht reicht schon hin, um erkennbar zu machen, dass die braunen Körner des Sandes und die weiße Haut des Menschen nicht zu ihrem jeweiligen Sein gehören können.
Fragt man nach, was denn das genaue Sein von etwas selbst, etwa dem Kreis, ausmacht, wird deutlich, dass der Kreis eine Ordnungsmöglichkeit ist – dass alle Punkte der Peripherie zum Mittelpunkt den gleichen Abstand haben –, die im Sand nur realisiert ist. Diese Ordnungsmöglichkeit gilt nicht nur für diesen Kreis und auch nicht nur für den Sand, sie ist in verschiedenen Materien in verschiedenen Größen immer wieder verwirklichbar. Sie ist das, was sich als etwas Bestimmtes festhalten lässt, sie und nicht das, worin sie verwirklicht ist, ist ein stabiles Sein.
Im Mittelalter lehrte man mit Aristoteles
Platon und Aristoteles haben in vielen Analysen gezeigt, dass das für alle empirischen Dinge gilt: Man erkennt sie an dem, was sie können, und man erkennt ihr Können, ihre Vermögen, wenn man prüft, wie sie es ausführen. Auch als Mensch erkennt man sich, wenn man fragt: welche Fähigkeiten habe ich und wie kann ich sie entwickeln und verwirklichen? Die mittelalterlichen Theologen haben deshalb mit Aristoteles gelehrt, dass man alles an potentia und actus, an seinem Vermögen und dessen Akt erkennt.
Der Weg von dieser Einsicht zur Erkenntnis Gottes ist nicht unkompliziert, aber eindeutig: Die Möglichkeiten, die zum Beispiel in einem einzelnen Kreis verwirklicht sind, kann man auch rein für sich erkennen, etwa dass in einem Selben alle Teile dieses Selben zu ein und demselben im selben Verhältnis stehen.
Ein Gegenstand des Denkens
Diese Möglichkeit ist rein und nur ein Gegenstand des Denkens, genauer: der Vernunft, und macht so möglich, dass man nicht nur gezeichnete Figuren, sondern auch einen Liederkreis, einen Freundeskreis, eine Kreis-Komposition als Kreis erkennen kann.
Sie ist also Teil einer allgemeinen, für alles und alle gleich verbindlichen Vernunft, in deren Licht wir das an den Dingen erkennen, was ihr wirkliches Sein ausmacht.
Bedenkt man, dass auch wir uns als Subjekt und Person verstehen, weil wir mit Vernunft uns selbst erkennen und bestimmen können, liegt fast auf der Hand, dass man auch eine für alle verbindliche Vernunft nur als etwas denken kann, was sich selbst kennt und sich selbst bestimmt, also als Person. Dieser Vernunft haben die Philosophen und Theologen über fast 2 000 Jahre europäischer Geschichte den Namen „Gott“ gegeben.
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