Können Leser der „Tagespost“ so persönlich angesprochen werden? Ist das nicht despektierlich und distanzgemindert? Wäre die Überschrift nicht eher etwas für eine Jugendausgabe einer Zeitung? Fragen über Fragen. Wer lieber gesiezt werden möchte im Sinne einer angemessenen Nähe-Distanz-Regulierung, der fühle sich nicht von der Anrede, sondern nur vom Thema persönlich angesprochen. Denn das Thema Alkoholkonsum ist sicher ein persönliches.
„Vielleicht ist zum Umgang mit Alkohol die biblische Aussage hilfreich:
‚Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht über mich haben‘“
Was hat es nun mit dem Alkohol auf sich? Der eine oder die andere hat sich im Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum schon auf der Überholspur des Lebens gefühlt und sich dann doch auf dem Standstreifen wiedergefunden. Für manche ist Alkohol ein unverzichtbarer Wegbegleiter nach Feierabend. Er ist ein gern gesehener Gast auf Feiern; bei sportlichen Erfolgen darf er weder bei Fans noch bei den Akteuren fehlen. Beim Grillen erst recht nicht. Die umdrehungsfreie Variante lassen viele nicht gelten. Alkohol wird als Durstlöscher eingesetzt oder auch zur Selbstmedikation, um ungeliebte Gedanken oder Erinnerungen auszublenden, um der Realität auszuweichen, um besser schlafen zu können oder als soziales Schmiermittel, um lockerer zu werden. Alkohol kann zudem die Hemmschwelle dahingehend senken, dass es schneller zur Gewaltanwendung kommt und dass moralische Grenzen verschoben werden.
Zum Thema Alkohol gibt es eigene Redewendungen und Formulierungen, wie etwa kein Bier vor vier, einen über den Durst trinken, sich die Kante geben oder eine Fahne haben. Vom Alkohol leben ganze Wirtschaftszweige, er gehört in manchen Regionen praktisch zum Kulturgut und ist in vielen Lebensbereichen präsent, zum Beispiel in Filmen und in der Werbung. Die Herstellung von Alkohol prägt in manchen Gegenden die (Industrie-)Landschaft, sei es durch Brauereien oder durch Weinanbaugebiete.
Selbstbestimmter und kontrollierter Genuß
Zurück zum Alkoholtrinken und dessen individuellen Auswirkungen. Zum Thema Alkoholkonsum fallen mir als Suchttherapeut einige explorierende Fragen ein: Seit wann trinkst Du Alkohol? Hat sich Dein Alkoholkonsum gesteigert? Wenn ja, wann und wieviel? Warum trinkst Du Alkohol? Was ist die Funktion des Alkohols? Hast Du schon einmal versucht, mit dem Alkoholtrinken aufzuhören? Wenn ja, mit welchem Ergebnis?
Nebenbei bemerkt: Als Suchttherapeut bin ich es von Berufs wegen gewohnt, mich für eine abstinente Lebensweise einzusetzen. Das ist sozusagen ein natürlicher Reflex. Um eine Abstinenzhaltung gegenüber Alkohol soll es hier jedoch nicht gehen. Ein maß- und genussvoller Alkoholkonsum soll keiner negativen Wertung unterzogen werden. Genussfähigkeit im Allgemeinen ist auf alle Fälle positiv! Entscheidend aus meiner Sicht ist, dass ein Umgang mit Alkohol selbstbestimmt und kontrolliert stattfindet und dass sich der Alkoholkonsum nicht verselbstständigt.
Wenn Alkohol den Alltag übernimmt
Eine Frage wäre hier beispielsweise, ob jemand auf sein gewohntes Feierabendbier verzichten kann und welche Entspannungs- oder auch Genussmöglichkeiten ihm stattdessen zur Verfügung stehen oder welche er vielleicht neu kennenlernen und einüben kann. Sollte der Alkoholkonsum mehr und mehr den Alltag einengen und letztlich bestimmen, ist es gut, dieses zu erkennen, sich einzugestehen und dieser Dynamik entgegenzuwirken. Dazu ist oft externe Unterstützung hilfreich. Bei einem Blick in die Bibel wird deutlich, dass dort von Alkohol an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen die Rede ist. Ein markantes Beispiel ist das Wasser-zu-Wein-Wunder auf der Hochzeit von Kana. Vielleicht ist zum Umgang mit Alkohol die biblische Aussage hilfreich: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht über mich haben“ (1. Korinther 6, 12b).
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