Für das Ballett Zürich hat der Choreograf und Ballettdirektor des Slowenischen Nationaltheaters Maribor, Edward Clug, eine bildgewaltige und tänzerische Umsetzung von Goethes „Faust“ erschaffen. Die Uraufführung fand vor kurzem in Zürich statt. Die Journalistin Julia Nehmiz hat die berührenden Momente so erlebt: „Gespielte Bewegungen, Sehnsucht, Verlangen, schöner, zärtlicher, als es mit Worten möglich wäre – und bei allem die unheilvolle Ahnung, das geht nicht gut aus.“ Eine düstere Welt, in der die Liebe zu Tugenden „wie Fremdkörper wirkt“. (Thurgauer Zeitung, 1. Mai 2018)
Goethes Tragödie „Faust“ ist die bekannteste Dichtung in deutscher Sprache. Sie geht auf eine lange Entwicklung zurück, denn nicht allein Goethe (1749–1832) schrieb fast sein ganzes Leben daran – auch schon andere Autoren über drei Jahrhunderte hinweg arbeiteten an den Faust-Geschichten. Der Stoff geht auf einen Mann im 16. Jahrhundert zurück, über den bereits Zeitgenossen mit einer Mischung von Bewunderung und Schrecken berichteten.
Nach modernen Forschungen erscheint es heute richtig, so Peter Boerner (1999), dass Jörg oder Johannes Faust um 1480 in dem württembergischen Städtchen Knittlingen geboren wurde. Etwa mit dreißig Jahren soll er als Astrologe, aber auch als Quacksalber gewirkt haben. Man kannte ihn und redete über ihn. Bei dem ungebildeten Volk verbreitete sich schnell eine Sage über seine Wunderfähigkeiten. Es zirkulierten Gerüchte, er habe sich für die damals aufkommenden, von der Theologie gelösten Wissenschaften, insbesondere für die Alchimie (Verwandlung der Materie durch geheime Kräfte) interessiert, und dabei spektakuläre Resultate erzielt. So tauchte schon um 1570 ein lateinisches Manuskript auf, in dem von „solchen Dingen“ die Rede war.
Nicht viel später, 1587, erschien die „Historia von D. Johann Fausten“, (der Zauberer und Schwarzkünstler), das erste das Thema behandelnde Volksbuch. Der unbekannte Verfasser hatte darin die schon umlaufenden Geschichten gesammelt und neue hinzugefügt. Entscheidend war dabei, dass nun auch die Teufelsgestalt Mephistoteles (bei Goethe der „Erdgeist“) in Erscheinung trat und mit dem Faust einen geheimnisvollen Pakt abschloss.
Im 16. Jahrhundert fand dann die weiter wuchernde Sage ihren Weg nach England, wo Christopher Marlowe, ein Zeitgenosse von Shakespeare, aus den bisher nur losen Episoden eine gewaltige Tragödie schuf. Eigentlich erst hier wurde aus dem Satansverbündeten, der nach überirdischer Erkenntnis und weltlicher Macht strebte, ein Empörer gegen Gottes Allmacht. Durch wandernde Schauspielergruppen erreichte dann die Erzählung bald auch den europäischen Kontinent und erregte die Gemüter. Doch mit dem Aufkommen der Aufklärung verlor das einst so eindrucksvolle Spiel an innerer Kraft und sank in die Sphäre des Puppentheaters. Der dämonische Magister ließ sich nicht in einen Helden der Vernunft transformieren. Erst die dichterische Zeit des 18. Jahrhunderts griff das Thema wieder auf; Klinger, Maler Müller und schließlich Goethe. Goethe beschäftigte sich in Gedanken an ein Faust-Drama schon während seiner Straßburger Studienzeit. Später war es Schiller, der ihn zur Wiederaufnahme seines alten Stoffes drängte. Doch erst 1797 begann Goethe „das Paket aufzuschnüren, das ihn gefangen hielt“ (Brief an Schiller, Dezember 1794).
Selbst C.G. Jung, der Begründer der Analytischen Psychologie, ließ sich von dem Stoff inspirieren. Bezugnehmend auch auf Goethes Faust ging es ihm unter anderem um die Bedeutung der Figur des Mephistopheles (der Teufel oder das unmoralische Ideal) speziell, um seine notwendige Rolle bei der Selbstverwirklichung (Individuation) der Person. Mit anderen Worten: Um „vollkommen“ zu werden, soll man die unmoralischen Werte nicht verdrängen, sondern sie ausleben und in die Gesamtpersönlichkeit integrieren. Dieses Gedankengut hat Jung auch auf seine Religionspsychologie übertragen, wo er aufgrund seiner alchemistischen und mythologischen Forschungen folgendes lehrt: „Ist die Wirklichkeit der Weltschöpfung im actus purus eingeschlossen, so befindet sich dort auch der Teufel. (...) Aus dieser Sachlage ergibt sich eine Quaternität, allerdings eine andere als dasjenige, welche durch das 4. Laterankonzil anathematisiert wurde.“ Die Anerkennung der Funktion des Satans führt bei Jung zur Erweiterung der Trinität zur Quaternität (Vater, Sohn, der Heilige Geist und Satan) als Symbol für die Individuation oder Ganzheit (Vgl. Martha v. Jesensky: C.G. Jungs Persönlichkeitspsychologie und ihre Auswirkungen in der Praxis, insbesondere auf den Zusammenhang von Religion und Neurosen, 2001).
Die Gegensätze des Faust-Dramas bilden der Herr, der den Glauben an die zwar irrenden, aber im Kern doch guten Menschen nicht aufgegeben hat, und Mephistopheles, der jetzt nicht mehr der seelenhungrige Teufel ist, sondern jemand, der auch seinen Platz unter den Menschen haben will. Diesem Rahmen entspricht der eigentliche „Vertrag“ zwischen Faust und Mephistopheles. Schlussendlich geht es darum, ob Fausts Streben nach Erkenntnis jemals zum Stillstand gebracht werden könnte – sei es durch Genuss oder Selbstgefallen. So unternimmt er es, mit Mephistopheles zu wetten: „Wird' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen:/ So sei es gleich um mich getan!/ Kannst du mich schmeichelnd je belügen/ Dass ich mir selbst gefallen mag,/ Kannst du mich mit Genuss bekriegen:/ Das sei für mich der letzte Tag!/ Die Wette biet‘ ich. (Vgl. Faust, Vers 1 692, 5,193)
Goethe-Biograph Peter Boerner sagt: Von diesem Pakt aus erscheinen dann sämtliche Geschehnisse der Tragödie als Versuche des Mephistopheles, Faust durch Lebensgenuss zu gewinnen. Rüdiger Safranski (2013) resümiert: Das Prinzip Mephisto gehört zum Menschen. Und insofern gehört es auch zu Faust. Faust und Mephisto treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selber sagt, er bestehe aus mehreren Personen. Faust spricht dann konkret die widersprüchliche Einheit aus, die ihn mit Mephisto verbindet: „Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust,/ Die eine will sich von der andern trennen;/ Die eine hält, in derber Liebenslust,/ Sich an die Welt, mit klammernden Organen;/ Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust/ Zu den Gefilden hoher Ahnen.“ (S. 607)
Mephisto bietet Faust die Welt als „Lustquantum“ (Boerner) an. Demgegenüber will Faust beweisen, dass ihm eine solche zum Lustobjekt reduzierte Welt nicht genügt. Mephisto verwandelt die Welt in ein konsumierbares Angebot – Faust will zeigen, dass er mehr ist als ein Konsument, will die Unstillbarkeit seines Strebens nach metaphysischer Erkenntnis beweisen. Mephisto nun wettet darauf, dass sich sein Verlangen „erledigen“ wird, sobald Faust die Weltangebote, die er im Programm hat, tüchtig konsumiert. Er will ihn auf das Faulbett legen, bietet ihm Wonnen der Gewöhnlichkeiten an. Faust soll erkennen, dass auch er nur ein Mensch mit Menschen ist, eben ein Weltverbraucher. Faust strebt also hinauf zum Göttlichen, Mephisto zieht ihn aber hinunter (S. 611).
Mephisto skizziert (so Rüdiger Safranski) seine Anthropologie wie folgt: Der Mensch hat ein wenig Himmelslicht, man nennt es Vernunft. Er hat aber zu wenig davon, um wirklich vernünftig zu sein, und zu viel, um mit seiner animalischen Existenz in Übereinstimmung zu bleiben. Das Animalische enthält einen Konstruktionsfehler. Das Tierische und das Vernünftige behindern sich wechselseitig. Mephisto argumentiert, wie die skeptische moderne Anthropologie, die den Menschen als „exzentrisches Wesen“ oder gar als „Irrläufer der Evolution“ bezeichnet –, weil bei ihm Instinkte und Vernunft nicht ausbalanciert sind. Die Folgen sind bekannt: Todesangst, Selbstzerstörung, Umweltzerstörung, Aggression. Der Mensch kann abstürzen in die Bestialität, tierischer als jedes Tier sein.
Mephisto verspricht, bei dieser riskanten Fehlkonstruktion eine Verbesserung herbeiführen. Und zwar dadurch, dass er beispielhaft am Faust den Menschen vom Widerspruch zwischen Himmel und Erde, zwischen Geist und Materie entlastet und ihn ganz auf Erde zurückbringt. Er will beweisen, dass der Mensch ein besseres Leben hat, wenn er sich nicht um Gott kümmert. Im „Prolog im Himmel“ kommt es dann zur ersten der beiden berühmten Wetten: Die Wette zwischen Mephisto und dem Herrn. Später folgt die Wette zwischen Faust und Mephisto.
Die erste Wette, die Mephisto dem Herrn anbietet, ist: Mephisto wettet darauf, dass dem Menschen besser gedient ist, wenn er ihm – wie er es am Beispiele von Faust zeigen will – die „metaphysischen Flausen“ austreibt und ihm zum ausgenüchterten Realisten macht. Besser bodennah sein, als im Schwebezustand zwischen Himmel und Erde. Demgegenüber will der Herr beweisen, dass Mephisto den Faust letztlich von seinem geistigen Urquell nicht trennen kann, und ihm das Himmelslicht nicht verdunkeln vermag. „Ein guter Mensch, in seinem dunkeln Drange,/ Ist sich des rechten Weges wohl bewusst. (S. 608–609) Der wichtigste Aspekt des Dramas ist jedoch, dass sich die Ereignisse nicht nur in der äußeren Welt, sondern vor allem in der Seele Fausts (beziehungsweise Goethes) in einer Kette von inneren Erfahrungen, Kämpfen und Zweifeln abspielen.
Zum letzten Mal äußerte sich Goethe über den „Faust“ im März 1832. Auf eine Anfrage Wilhelm von Humboldts nach dem Stand seiner Arbeit antwortete er mit einem ausführlichen Schreiben, dem letzten von mehr als fünfzehntausend Briefen, die er im Laufe seines Lebens verfasst hat: „Es sind über sechzig Jahre, dass die Konzeption des Faust bei mir jugendlich von vorneherein klar, die ganze Reihenfolge hin weniger ausführlich vorlag … Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt, und ich habe nichts angelegentlicher zu tun als dasjenige, was an mir ist und geblieben ist und wo möglich zu steigern… Ohngeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich diese Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen vermag.“ Nicht einmal eine Woche nach diesem Brief, am 22. März 1832, starb Goethe im Alter von zweiundachtzig Jahren.
Goethe glaubte weder an Gott noch an den Teufel
Nun welche Geheimnisse meint hier Goethe? In einem Brief an seinen Freund Johann Peter Eckermann (Juni 1831), zwei Wochen vor der Vollendung der Arbeit, macht er auf folgendes Schlusskapitel aufmerksam: „Gerettet ist das edle Glied/ Der Geisterwelt vom Bösen:/ Wer immer strebend sich bemüht,/ Den können wir erlösen!/ Und hat an ihm die Liebe gar/ Von oben teilgenommen,/ Begegnet ihm die selige Schar/ Mit herzlichen Willkommen.“ (Faust, Vers 11 934, 5,520)
Eckermann sprach mit Goethe über diese Verse. (Juni 1831) Goethe sagt dazu: In diesen Versen „ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten. In Faust selber immer eine höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.“
Was ist geschehen? Nach Safranski hat Goethe weder an den Teufel, noch an Gott geglaubt. Er war Spinozist, das heißt, für ihn galt: „Deus sive natura“, Gott ist die Natur, in ihrem ganzen Reichtum und in ihrer schöpferischen Kraft. Und der Mensch soll diese schöpferische Kraft, die auch in ihm lebt, entdecken, bewahren und betätigen. Tätigkeit war deshalb für Goethe ein „Gottesdienst“. (S. 606–607)
Ohne Zweifel hat Goethe seine schöpferische Kraft voll genützt, wollte sogar aus eigener Kraft, wie er sagt, mittels „reiner Tätigkeit“ (gemeint ist Handeln nach sittlichen Kriterien) immer höhersteigen und schlussendlich in einer anderen Form des Daseins die Unsterblichkeit erlangen. Goethe: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen…“ (S. 607).
Dass aber weder die Natur dazu verpflichtet ist, noch dass man aus eigener Kraft die Unsterblichkeit erreichen kann, hat Goethe am Ende seines Lebens erfahren. Der HERR, der geistige Urquell seines Daseins, hat ihn entführt…“. „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/ Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“ (Mit diesen Worten stirbt der Hundertjährige Faust) (Faust, Vers 11 585, 5,509) Es stimmt, wenn Karl Jaspers sagt, die Zeit des Goethe-Kultus ist vorbei. („Goethe und unsere Zukunft“, 1947)
Aber in religionspsychologischer Hinsicht ist Goethes Ringen nach Gotteserkenntnis und sittlicher Besserung (durch Verinnerlichung moralischer Werte) auch heute noch von immenser Bedeutung – auch für die katholische Kirche, die gegenwärtig von Turbulenzen der Relativierung ihrer moralischen Werte durchgeschüttelt wird. Man muss dabei nicht, wie Kierkegaard sagt, „den Verstand kreuzigen“ oder die naturgegebenen Triebe unterdrücken, sondern sie im Einklang mit der Kirche leben. Vielleicht könnte uns das mehr vor Fehlleistungen schützen?