Würzburg

In Grenzen leben?

Was hilft es, vergeblich in der Ferne zu suchen, was man nur in nächster Nähe – in sich selbst – finden und „stille bewahren“ kann? Die pandemische Krise als kultrelle und spirituelle Herausforderung.
In Grenzen leben?
Foto: Adobe Stock | Die jetzige Krise ruft die menschliche Begrenztheit wieder ins Bewusstsein und lädt zu einer Rückbesinnung auf die Innerlichkeit ein.

Das Seil unserer alltäglichen Gewohnheiten, das uns in der Steilwand des Lebens Halt und Sicherheit gibt, ist gerissen. Unser Selbstbild hängt in der Luft. Worauf wir uns fest verlassen haben, nämlich Herr der Lage zu sein, gilt nicht mehr. Wir erleben eine Epoché, einen Abbruch bisheriger Verläufe, die uns fassungslos macht, weil wir in ihnen keinen Sinn erkennen können und in Bodenlosigkeit zu versinken drohen. Unser Alltag „konvertiert“: Selbstverständlichkeiten zerbrechen und die Ausnahme wird zum Alltag. Die Unterbrechung ist erzwungen. Aber das heißt ja mitnichten, dass wir sie nicht für einen Augenblick des Innehaltens und Abstandnehmens annehmen können, um zu fragen, was sie uns bedeuten kann.

Viele Menschen bangen derzeit um ihre wirtschaftliche Zukunft; sie fürchten, den Arbeitsplatz zu verlieren, ängstigen sich vor Alleinsein und Einsamkeit, trauern vielleicht sogar um tote Angehörige. Wenn jetzt gelegentlich gefragt wird, welcher Sinn sich hinter den Schrecken der Pandemie, den vielen Kranken und Toten, schweren Sorgen und großer Angst vor Ansteckung, Vereinsamung, Not und Armut verberge, dann wird man wohl sagen müssen: So wenig wie ein Erdbeben hat eine Pandemie einen Sinn, der ihr auf die Stirn geschrieben steht. Aber sie ruft Fragen wach – Fragen, die eine kulturelle Krise, die ja immer eine interpretatorische Krise ist, ausmachen. Es geht um unser Selbstverständnis, unsere Selbstdeutung und unser Selbstbild als Menschen im 21. Jahrhundert. Darüber nachzudenken lohnt in einer durch schreckliche äußere Umstände erzwungenen Ruhe. Nachdem von heute auf morgen fast alles zum Stillstand gekommen war, was in unserem Leben bisher wichtig schien, belehrt sie uns jetzt darüber, dass immer, wenn vom Menschen die Rede ist, zunächst einmal über sein blankes, nacktes Leben gesprochen werden muss – und die ihm geschuldete Würde. Das betrifft die Notwendigkeit, in Not Geratenen zu helfen. Vor allem aber die aufflammende Auseinandersetzung über eine „Triage“ – die von Ärzten im äußersten Notfall vorzunehmende Auslese und Auswahl von Kranken – zeigt mit aller Schärfe: Eine bisher nur abstrakt von Spezialisten geführte Debatte über unser Menschenbild berührt jetzt unser eigenes Leben unmittelbar: Jeder kann schon morgen betroffen sein von einer Entscheidung, für die es keine Rechtfertigung gibt, die aber gleichwohl in äußerster Not zu treffen ist, weil nicht zu entscheiden eben auch eine Entscheidung ist.

„Die Erfahrung von Leid ist keine Grenzerfahrung,
sondern Alltagserfahrung des Menschen“

Zur Bestimmung des Menschen gehört, nur in Grenzen leben zu können: in den Grenzen seiner Endlichkeit: seiner Sterblichkeit, seiner Zerbrechlichkeit, seiner Ohnmacht, nicht zuletzt in den Grenzen seines nie zulänglichen Wissens und seiner immer endlichen Vernunft. Leid, Tod und Hinfälligkeit, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit sind Erfahrungen, die wir oft genug machen, aber genauso oft schnell wieder vergessen wollen. Das ist kurzsichtig, weil es uns den Blick auf uns selbst verstellt. Nicht erst seit Max Frischs Roman „Homo faber“ aus dem Jahr 1957 wissen wir, dass jenes Selbstbild, das uns Francis Bacon vor genau 400 Jahren als Ideal vor Augen stellte, in eine Selbsttäuschung mündet, die uns wirklichkeitsblind macht: Verfügbarkeit, Machbarkeit, Beherrschbarkeit: das sind Idole, keine Ideale. Die Erfahrung von Leid ist keine Grenzerfahrung, sondern Alltagserfahrung des Menschen. Wer das bestreitet, hat vielleicht viel von jener Empfindsamkeit verloren, derer es bedarf, auch im Zustand bester Gesundheit zu wissen, dass schon morgen das Leben zu Ende sein kann. Warum ist das wichtig? Weil eine Gesellschaft, der in angemessener Weise diese letzten Fragen vor Augen stehen, anders lebt: besonnener, dankbarer, gesammelter, aufmerksamer – das Ende bedenkend.

Das Bewusstsein, nur in Grenzen leben zu können, heißt schließlich auch: zu wissen, dass hinter dem Leitbild einer ganz und gar entgrenzten Welt die Unmenschlichkeit lauert. Eine erste und richtige Reaktion auf ein alle Grenzen weltweit überschreitendes Ereignis, die Pandemie, war die Wiederentdeckung der Bedeutung von Grenzen. Nicht nur, weil Regierungen nur so ihrem verfassungsmäßigen Auftrag, das Volk zu schützen, gerecht werden konnten; sondern auch deshalb, weil Grenzen notwendig sind und bleiben, um bestimmte grundlegende Ordnungsaufgaben zu erfüllen. Sicher, Grenzen können behindern und trennen. Aber sie können auch helfen, den Überblick zu bewahren, ja, wie sich jetzt zeigt, Leben zu retten. Wer von ihrer restlosen Abschaffung träumt – und Nationalstaaten gleich mit auf die Müllhalde der Geschichte befördern will, ist Gefangener eines Albtraums. Die inneren Widersprüchlichkeiten der Globalisierung verdienen mehr Aufmerksamkeit, als wir ihnen bisher geschenkt haben. Ist unsere Lebensform von einem Menschenbild geprägt – oder folgt unser Selbstverständnis den vermeintlichen Zwängen einer äußerlichen Lebensform? Um diese Frage geht es.

Die Selbstverlorenheit ist zur Gewohnheit geworden

In seinem Buch „Die einsame Masse“ von 1965 trifft David Riesman eine grundlegende Unterscheidung, die mir auch heute noch maßgeblich zu sein scheint: die Unterscheidung nämlich zwischen der Außengeleitetheit eines Menschen und seiner Innengeleitetheit. Tatsächlich ist zu vermuten, dass die Lebensform der westlichen Gesellschaften einseitig die Außenleitung eines Menschen zulasten seiner Innengeleitetheit fördert. Man macht es so, wie es offenbar alle machen, wie es „üblich“ ist, wie es den Erwartungen der anderen entspricht – und muss dann nicht weiter selbst darüber nachdenken, ob es klug, richtig und gut ist, was man tut. Wo aber Exteriorität – Äußerlichkeit – und Konformität ganz an die Stelle von Interiorität – Innerlichkeit – treten, erleidet der Mensch einen Verlust seiner selbst. Denn es ist ja gar nicht er selbst, der sich in seinem Handeln kundgibt, wenn dieses Handeln allein dem folgt, was scheinbar alle anderen auch tun. Am Beginn der europäischen Philosophie stand die sokratische Selbstsorge als Seelsorge; heute hingegen, so scheint es, ist die Selbstverlorenheit als Lebensform vielen Menschen zur Gewohnheit geworden.

Die Rückkehr zum Selbst – das, was die Philosophie eine „reditio in seipsum“ nennt – scheint mir eine Aufgabe, über die sich heute mehr als zuvor nachzudenken lohnt. Wie viele der Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft, die ständig außer Atem und von innerer Unruhe getrieben ist, in der Menschen nie bei sich sein können und in der es zum guten Ton gehört, keine Zeit zu haben, sind nicht menschengerecht, sondern menschenverachtend? Nicht Folge einer Innerlichkeit, die das äußerliche Tun beseelt, sondern Folge nur eines Herdentriebes? Dem steht die Feststellung des Aquinaten gegenüber: „Jedes Wissende weiß sein Wesen, also geht es durch eine vollständige Rückwendung zu seinem Wesen zurück“, schreibt Thomas in einem berühmten Kommentar zu einem Bestseller seiner Zeit, dem „Liber de causis“. Wenig genug kann der Mensch wissen, weil seine Vernunft endlich, schwach und begrenzt ist. An der Zerbrechlichkeit dieser Vernunft, die ihm lebenslang zu wissen verwehrt, was er um jeden Preis wissen möchte – nämlich woher er kommt und wohin er geht –, leidet er ein Leben lang. Wenn er jedoch schon in großer Ungewissheit leben muss: Sollte er sich dann nicht umso mehr wenigstens um ein Wissen über sein eigenes Wesen bemühen?

„Wo immer lärmende Äußerlichkeiten
entmächtigt werden, geht die Tür zum inneren Menschen
auf und eröffnet einen Raum der Selbsterkenntnis“

Heute hingegen meinen viele, Selbstfindung bleibe ein Wahn, weil Menschen, zu Selbsterschaffung und Selbsterfindung verurteilt, gar kein eigenes Wesen besäßen. Wenn aber nun doch? Was ist, wenn die Konstruktion des außengeleiteten, rast- und ruhelosen Menschen, der aus beruflichen Gründen oder um seines Vergnügens willen von Kontinent zu Kontinent hastet, an seiner Bestimmung vorbeilebt? „Immer erreichbar!“ heißt es in der Werbung für ein Smartphone. Ruheräume sind in dieser Lebensform der Exteriorität nicht vorgesehen. Nachdenklichkeit aber bedarf der Stille. Wo immer lärmende Äußerlichkeiten entmächtigt werden, geht die Tür zum inneren Menschen auf und eröffnet einen Raum der Selbsterkenntnis – es ereignet sich Transzendenz. Damit stellt sich umso dringlicher die Frage: Sollte nicht der innere Mensch den äußeren prägen – statt dass umgekehrt der innere Mensch durch die Herrschaft von Äußerlichkeiten mundtot gemacht wird?

Es gibt ein schönes Gedicht von Gottfried Benn, das beschreibt, wie Rastlosigkeit und Unruhe – ob nun freiwillig oder erzwungen zur Gewohnheit geworden – die Sehnsucht des Menschen nicht erfüllen können: „Meinen Sie Zürich zum Beispiel“, dichtet Benn in unmittelbarer Ansprache des Lesers, „sei eine tiefere Stadt,/ wo man Wunder und Weihen/ immer als Inhalt hat?“ Das Gedicht fährt fort: „Meinen Sie, aus Habana,/ weiß und hibiskusrot,/ bräche ein ewiges Manna/ für Ihre Wüstennot?“ und endet: „Ach, vergeblich das Fahren!/ Spät erst erfahren Sie sich:/ bleiben und stille bewahren/ das sich umgrenzende Ich.“ Was hilft es, vergeblich in der Ferne zu suchen, was man nur in nächster Nähe – in sich selbst – finden und „stille bewahren“ kann? Der Lockdown macht die Begegnung mit sich selbst unausweichlich und kann gerade deshalb Gelegenheit zu neuer Selbstfindung bieten. Er zwingt, zu bestimmten Gewohnheiten auf Distanz zu gehen – darunter solche, zu denen auch künftig Distanz zu halten den Blick für das Wesentliche schärfen kann, wenn wir allmählich wieder zur hergebrachten Lebensweise zurückkehren.

Jetzt zeigt sich, welche Beziehungen tragen

Distanz wahren! So lautet der Imperativ der Stunde. Dabei wäre es gut, zwischen physischer und sozialer Distanz zu unterscheiden. Physisch getrennt zu sein, muss keinesfalls bedeuten, sozial zu vereinsamen. Vielleicht ist das pausenlose Geplapper in den sozialen Medien kein guter Ersatz für menschliche Nähe – das wusste man jedoch auch schon früher. Verlässliche Beziehungen tragen über Zeit und Raum hinweg. Wie wichtig es ist, sie aufzubauen, wird uns jetzt wieder schlagartig klar. Der gute Freund, nebenan oder weit weg, die Nachbarin oder der Nachbar, die eigene Hausgemeinschaft: Jetzt zeigt sich, wer nah oder fern ist und welche Beziehungen tragen. Ich kenne Menschen, die längst begonnen haben, darüber neu nachzudenken.

Nachdenklichkeit ist Voraussetzung jener Spiritualität, die wieder freizulegen kein Luxus, sondern Bedingung unserer Menschlichkeit ist: indem wir Wege finden, unserer eigenen Gebrechlichkeit gewahr zu bleiben, ohne angesichts des blanken Erschreckens, das mit deren Erleben einhergeht, zu erstarren. Das kann gelingen, wo an die Stelle der Angst vor Vernichtung die Hoffnung auf Vollendung tritt.

Kurz gefasst
Krisen sind, dem Wortsinn nach, Zeiten der Unterscheidung und des Richtungsentscheids. Deshalb sollten wir die pandemische Krise auch als das verstehen lernen, was sie vielleicht vor allem ist: eine kulturelle und spirituelle Krise. Sie gibt Gesellschaften, die außer Atem geraten waren, Gelegenheit, innezuhalten und sich die lange verdrängte Frage nach dem „Wozu“ und dem „Wohin“ neu zu stellen.

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