Über die politische Zukunft Europas wird seit wenigen Jahren wieder gestritten wie schon lange nicht mehr. Während die ersten Staaten aus dem Unionsverband ausbrechen (Vereinigtes Königreich) oder deutlich auf Distanz gehen (etwa Ungarn, Polen), scheint sich die Politik der EU-Kommission auf ein „Weiter so!“ zu beschränken. Der Wahlkampf für das Europäische Parlament wurde 2019 stark emotional und im Modus der Krise geführt. In dieser gespannten Lage ist jeder Diskussionsbeitrag erwünscht, der neue Perspektiven bietet, ohne in Illusionen abzugleiten. Dem Professor für römische Geschichte David Engels (Brüssel und Posen) ist es mit einem soeben erschienenen Sammelband weitgehend gelungen, diese Wünsche der interessierten Öffentlichkeit in ungewöhnlicher Weise zu erfüllen.
Ungewöhnlich ist der Band zunächst wegen seiner ausdrücklich und selbstbewusst konservativen Positionierung. Ohne sich in den Irrgarten der europäischen Ideengeschichte zu begeben und erst einmal ausführlich zu klären, was denn genau konservativ sei und was nicht, auf wen man sich beziehen dürfe und auf wen nicht, bringt Engels einen neuen Begriff ins Spiel: „Hesperialismus“ (von „Hesperos“, dem Abendstern; sinnbildlich für den äußersten Westen). Damit entgeht er in der Öffentlichkeit gern verwendeten Anwürfen gegen den Begriff „Abendland“ (angeblich zu konfrontativ gegen den Orient, zu altbacken, zu „belastet“) ebenso wie dem Wort „Europa“, das in den Köpfen vieler Zeitgenossen mit der EU gleichgesetzt wird. „Hesperialismus“ möchte er als Synonym für einen abendländischen Konservatismus verstanden wissen. Und sein Konzept ist durchaus kämpferisch: Engels weist bereits in der Einleitung jenen „Konservativen“ zurück, die dem weltanschaulichen Antipoden schon auf halber Strecke entgegenkommen, indem sie sich seinen Prämissen unterwerfen, nur um (vermeintlich) anschlussfähig zu bleiben. Ihm geht es um eine „mögliche konservative Reform Europas“ und die „Entwicklung einer EU-skeptischen, aber pro-europäischen politischen Ideologie“, weil seiner Auffassung nach die „Stunde (…) förmlich nach der Schaffung einer paneuropäischen ,hesperialistischen‘ Bewegung schreit“. Dieses Anliegen ist bereits aus Gründen der Meinungsvielfalt innerhalb der EU zu begrüßen. Liberale und sozialistische Strömungen innerhalb der EU agieren schon deshalb ganz selbstverständlich länderübergreifend, weil sie die Nationalstaaten für überholt halten. Die europäischen Konservativen lassen demgegenüber in Kampagnen und Konflikten kaum je eine einheitlich handelnde politische Kraft erkennen. Eine aus den überlieferten nationalkulturellen Rahmen hervorwachsende, aber dennoch auf übernationale Zusammenarbeit ausgerichtete politische Theorie könnte den EU-Debatten einen ganz neuen Schwung geben. Fragwürdig ist freilich die Selbstbezeichnung als „Ideologie“. Bisher haben sich solche künstlichen, bloß erdachten Systeme stets als schädlich für die Weltordnung erwiesen. Ideologien im Sinne von festgefügten, in sich schlüssigen und „vollständigen“ Weltbildern neigen dazu, konkurrierende Welterklärungssysteme wie den christlichen Glauben zu bekämpfen. Das kann hier nicht gemeint sein, solche Assoziationen weckt das Wort „Ideologie“ aber zwangsläufig.
Engels und seinen Mitautoren schwebt eine weltanschauliche Lehre vor, die „aus Respekt vor unserer gemeinsamen Vergangenheit sowie vor den anstehenden, alle Europäer betreffenden Herausforderungen der Zukunft zwar eine auf Kernfragen begrenzte europäische Integration befürwortet, sich gleichzeitig aber strikt weigert, lokale, regionale und nationale Traditionen unter der vereinten Masse von Multikulturalismus, Individualismus, Turbokapitalismus und Globalisierung begraben zu lassen.“ Die Autoren setzen für ihr politisches Denken voraus, „dass sich das geistige Wesen des Abendlandes eben nicht im statistischen Mittelwert der privaten Vorstellungen all jener Menschen erschöpft, die zum jeweils gegenwärtigen Moment zufällig auf dem europäischen Kontinent leben, sondern tief in einer Vergangenheit verankert ist, welche gepflegt und verehrt, und nicht relativiert werden soll“ – sie setzen die Tradition voraus, ließe sich kürzer und einfacher sagen.
Das sind freilich noch keine haltbaren Argumente im Sinne einer politischen Theorie, und manche Aussage im Band ist noch etwas unausgegoren und leicht durch andere angreifbar. Dadurch wirkt das Buch etwas zerfranst und unfertig – weder rein abstrakte Theorieschrift noch polemische Essay-Sammlung –, aber gerade das trägt zur Neugierde weckenden Vielseitigkeit des Bandes bei. Der Herausgeber war offensichtlich darauf bedacht, innerhalb eines großen konservativen Spektrums nicht allzu viel thematische Homogenität zuzulassen, weswegen bei der Lektüre nie der Eindruck aufkommt, etwas gerade schon gelesen zu haben. Die meisten Autoren sind, verschiedenen Ländern entstammend, Hochschullehrer, mit einem Vizepräsidenten des Europäischen Parlamentes ist auch die politische Praxis vertreten.
Außer den schon zitierten Beiträgen von Engels seien zwei Aufsätze herausgegriffen. Der Beitrag von Zdzislaw Krasnodêbski, Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Politiker der konservativen polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die er im EU-Parlament seit 2014 vertritt, behandelt den Fortschritt und die Grenzen eines den Europäern gedeihlichen „Social Engineering“. Seine Ausarbeitung hilft, eine in der Diversifizierung weltanschaulicher Haltungen seit – spätestens – der Französischen Revolution in Vergessenheit geratene Erkenntnis wieder zutage zu bringen: dass der Konservatismus keine neben Sozialismus und Liberalismus gleichwertig als Kind der Moderne bestehende Ideologie ist, sondern das Überbleibsel einer vor den Umwälzungen hin zur Moderne gegebenen ganzheitlichen Weltsicht, die zu ihrer Blütezeit konkurrenzlos das Bewusstsein der gebildeten Europäer beherrschte. Der nachfolgende Text von András Lánczi ist eine scharfe Auseinandersetzung mit einem zur Vernünftigkeit erklärten Individualismus. Er zeigt ideengeschichtlich, wie diese Entwicklung letztlich ins Gegenteil und in Unfreiheit umschlägt: „Die modernen Rationalisten glauben, dass geschriebene Verfassungen eine moderne Gesellschaft zusammenhalten können, indem das Wort ,Gott‘ durch ,gute Verfassung‘ ersetzt wird, Naturrecht durch Menschenrechte, Männlichkeit durch Gender-Gleichheit, (…) Tugenden durch Werte usw., so dass also der eigentliche Charakter des Menschen letztlich als minderwertig gegenüber den neugeschaffenen institutionellen Gegebenheiten und ihrem funktionalen Nutzen erscheint.“
Weitere, durchweg lesenswerte Beiträge befassen sich mit dem Problem der Immigration (Chantal Delsol) mit einer möglichen neuen (oder alten, aber wiederentdeckten) Wirtschaftsordnung für Europa (Max Otte), der Zukunft der Familie (Birgit Kelle), einem „ästhetischen Patriotismus“ (Jonathan Price) und der „Christenheit des 21. Jahrhunderts“ (Alvino-Mario Fantini).
David Engels (Hg.): Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas. Manuscrip-tum Verlagsbuchhandlung (Edition Sonderwege), Lüdinghausen und Berlin 2019, 221 Seiten, ISBN 9-783-94807-500-2, EUR 12,80