Im Januar 2020 stieß ich im Wiener Antiquariat Nebehay auf eine unscheinbare Seltenheit: Zwischen anderen Schriftstücken fand sich dort ein kleines Autograph des schwäbischen Malerfürsten Hans Thoma, bis 1920 Direktor der Kunsthalle Karlsruhe. Doch es war kein gewöhnlicher Brief oder Kartengruß, wie er sich auch aus der Feder großer Künstler vergleichsweise häufig erhält. Stattdessen hatte Thoma am 10. Juli 1908 in geschwungenen Lettern ein Epigramm des katholischen Mystikers Angelus Silesius verewigt: "In dir muss Reichtum sein,/ Was du nicht in dir hast,/ Wärs auch die ganze Welt,/ Ist dir nur eine Last." Hätte man das Silesius-Wort tatsächlich ernst genommen, wäre man wohl vor dem Kauf des Schriftstücks zurückgeschreckt: Denn eine höhere dreistellige Summe war aufzuwenden für etwas, das man nicht in sich tragen, sondern bestenfalls gerahmt als Wandschmuck aufbewahren können würde. Gleichwohl erwarb ich das Schreiben und übergab es im weiteren Verlauf des Jahres an den Münchner Maler Fritz Hörauf, dessen Werk mitunter in die Nähe von Thoma gerückt wird. Von da an trug er die Last und er trägt sie gerne.
Vom Autograph des schwäbischen Malers ging zu Jahresbeginn der Impuls aus, die verblasste Tradition der Gedicht-Niederschrift neu zu beleben und insbesondere Künstler, doch auch andere Personen des öffentlichen Lebens zur Mitwirkung an einem entsprechenden Sammlungsprojekt einzuladen immer im Dienst der Dauerhaftigkeit. "Verba volant", so lernt es der Lateiner, "scripta manent" Worte verfliegen, Geschriebenes bleibt. Und nicht nur in den Eigenheiten der Handschrift, sondern auch in der Gedicht-Auswahl selbst liegt jeweils Charakteristisches und Charakterisierendes beschlossen, das der Nachwelt Aufschlüsse erlaubt über das Temperament des Federführers. Seit Januar konnte so eine dreistellige Zahl von Schriftbildern zusammengetragen werden von "A" wie "Asfa-Wossen Asserate", dem stilbewussten Abkömmling des äthiopischen Kaiserhauses, bis zu "Z" wie "Michael Zeller", dem in Breslau geborenen Schriftsteller und Träger des Gryphius-Preises. Beiträger verschiedenster Nationalitäten übersandten Schriftbilder in mehr als zehn Sprachen, darunter auch Latein, Hebräisch, Altgriechisch und Altägyptisch.
Als Plattform zur Verwahrung und Publikation der weiterhin wachsenden Sammlung fungiert das junge, 2018 gegründete Kulturmagazin "anbruch", das sich der Wiederentdeckung abendländischer Traditionsbestände verschrieben hat und zuletzt im März 2020 auf sich aufmerksam machte, als es aus Anlass des Hölderlin-Jubiläums Rüdiger Safranski zum Gespräch lud. Und nicht nur für den Meisterbiographen oder die "anbruch"-Redakteure, sondern auch für manchen illustren Schriftbild-Beiträger dürfte Hölderlin fest zum engeren Kreis der literarischen Lieblinge zählen: Neben den Malern Ludwig Valentin Angerer und Ada Isensee entschied sich etwa Bergsteiger Reinhold Messner bei seiner Schriftprobe für eine Hölderlin-Ode "Lebenslauf", entstanden 1800. Unbestritten führt die Liste der ausgewählten Dichter allerdings, wie es sich wohl gehört, Goethe mit sieben Beiträgern an, gefolgt von Rilke und Benn mit jeweils vier.
„Die wenigen Zeilen der einzelnen Autoren sprechen Bände“
Dass am Schriftgut und seiner Dauerhaftigkeit nach wie vor lebhaftes Interesse besteht, erwies sich nicht bloß anhand der regen Beteiligung, sondern darüber hinaus auch am freundlichen Zuspruch, der in Briefen und Grußkarten der Eingeladenen formuliert wurde. "Die wenigen Zeilen der einzelnen Autoren sprechen Bände", befand der Augsburger Literaturprofessor Helmut Koopmann, seinerseits "Auf dem Canal grande" von C. F. Meyer beisteuernd. Michel Houellebecq wiederum ließ in seinem Antwortschreiben wissen, dass ihm die Handschrift fremder oder verstorbener Menschen schon immer tiefere Einblicke gewährt habe, als Porträts oder Biographien. Kardinal Schönborn führte per Grußkarte aus, dass ihm während des Niederschreibens von Machado-Versen deren Vertonung durch Joan Manuel Serrat im Ohr geklungen habe. Kürzer fasste sich Geraldine Chaplin: "What a lovely project!", notierte die Schauspielerin ergänzend, nachdem sie einen Liedtext von Bob Dylan zu Papier gebracht hatte.
Seit der wissenschaftlichen Graphologie von Ludwig Klages Profil verliehen wurde, besteht der Reiz und zuweilen auch die Gefahr eines allzu psychologisierenden Blicks auf die Handschrift als Ausdruck der Persönlichkeit. Den Initiatoren des Schriftbilder-Projekts ist daher an der Klarstellung gelegen, dass man nicht bloß als Seelen-Detektiv, sondern auch und gerade als Freund der Form und nicht zuletzt der Lyrik auf die einzelnen Schriftproben blicken darf. Vage oder scherzhafte Schlüsse von Federführung auf Persönlichkeit der Schreibenden bleiben freilich erlaubt: Gloria von Thurn und Taxis etwa, die das Britting-Gedicht "Raubritter" niederschrieb, residiert nicht nur in feudaler Atmosphäre, sondern versteht den sinnlichen Schwung des Spät-Absolutismus offenbar bis in die eigene Handschrift hineinzutragen. Andere Mitwirkende sorgten hingegen für Überraschungseffekte: So ließ uns der von Berufs wegen nüchterne Althistoriker Alexander Demandt durch eine Zierschrift aufmerken, die man selbst exaltiertesten Künstlern kaum zugetraut hätte.
Eine breit gespreizte Altersspanne
Zwar beläuft sich der Frauenanteil unter der Einsenderschaft auf weniger als fünfzig Prozent, doch werden die zahlreicheren Männer immerhin jahrgangsmäßig sanft umfasst von der ältesten und jüngsten Beiträgerin: Von der Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen (*1925), die uns Stefan-George-Verse aus San Francisco sandte, und der mit jedem Recht als Wunderkind gefeierten britischen Komponistin Alma Deutscher (*2005), die Heinrich Heine auserkor. Zu den nächstjüngeren Mitwirkenden zählt auch der Lyriker Kier n Meinhardt, der 2019 mit dem "Treffen junger Autoren" den bedeutendsten bundesweiten Literaturwettbewerb für Jugendliche gewann und mit dreien seiner Gedichte in der zweiten "anbruch"-Druckausgabe vertreten ist, die Anfang Dezember erscheint.
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