Die Mitarbeiter der römischen Kurie, die ihr Mittagessen in einer der Trattorien des Borgo Pio einnehmen wollen, müssen unter ihm hindurch. Ebenso die Pilger und Touristen, die via Metro St. Peter ansteuern. Die Rede ist vom „passetto“, dem berühmten Fluchtkorridor der Päpste, der den Vatikan mit der Engelsburg verbindet. Der Passetto, achthundert Meter lang, verläuft vom Apostolischen Palast, genauer gesagt vom Hof des ehemaligen Päpstlichen Almosenamtes, bis zur Markusbastion des Castel Sant’Angelo. Seine Ursprünge reichen bis in die christliche Antike zurück. Schon im 4. Jahrhundert gab es einen Säulengang, der von der unterhalb der Engelsbrücke gelegenen Pons Aelius zur alten Konstantinsbasilika führte.
Der byzantinische Historiker Procopius berichtete als Augenzeuge, dass im Jahre 537 die Goten unter dem Schutz dieses Portikus zur Basilika vorgedrungen seien. Unter dem Eindruck der Sarazeneneinfälle fasste Papst Leo III. (795–816) den Entschluss, Sankt Peter und das angrenzende Gebiet zu befestigen; aber erst der heilige Leo IV. (847–855) ließ eine Ringmauer bauen, die sich hufeisenförmig von der Engelsburg aus rings um den Vatikanischen Hügel zog und auf der anderen Seite wieder bei der Porta Santo Spirito zum Tiber hinabführte. Wann nun in diese Mauer – in dem Abschnitt zwischen dem Apostolischen Palast und der Engelsburg – ein Fluchtgang eingebaut wurde, darüber bestand unter den Historikern lange Unklarheit.
Ferdinand Gregorovius konnte mit triftigen Gründen nachweisen, dass die erste Anlage auf Nikolaus III. (1277–1280) zurückging. Denn es war Nikolaus III., der die Residenz im Lateran mit der im Vatikan vertauschte. Die Zeiten waren für die Päpste so voll von Drohungen und Gefahren, dass von ihnen Vorsorge dafür getragen werden musste, um im Notfall rasch in die sichere Engelsburg zu gelangen. Immer wieder war der Fluchtgang vom Verfall bedroht. Gleich zu Beginn seines Pontifikates ordnete Alexander VI. (1492–1503) die Restaurierung des Korridors an. Schon im Dezember 1494 – bei der Einnahme Roms durch die Truppen Karls VIII. – war der Papst gezwungen, sich mit Hilfe des Ganges in die Engelsburg zurückzuziehen. Neun Jahre später, unmittelbar nach dem Tod des Borgia-Papstes, verhalf der Gang seinem Sohn Cesare, sich der Rache der Orsini zu entziehen.
Papst Klemens VII. (1523–1534) floh ein erstes Mal über den Korridor in die Engelsburg, als 1526 das römische Adelsgeschlecht der Colonna gemeinsam mit Ugo Moncada, dem Vizekönig von Neapel, den Borgo und die Vatikanischen Paläste plünderte; drei Tage lang musste der Papst in der Festung ausharren. Im folgenden Jahr war Klemens ein zweites Mal gezwungen, den Fluchtgang zu benutzen, diesmal unter weitaus bedrohlicheren Umständen. Am 6. Mai 1527 brach die spanisch-deutsche Soldateska Kaiser Karls V. in die Ewige Stadt ein und zog plündernd und mordend zum Vatikan. Unter hohen Verlusten gelang es der Päpstlichen Schweizergarde, Klemens VII. die Flucht über den Passetto zu ermöglichen. Einer der Hofprälaten hatte seinen Mantel ausgezogen und ihn dem Papst über die Schultern geworfen, sodass der Pontifex nicht an seinem weißen Gewande erkannt werden konnte.
Auch die Päpste der folgenden Jahrhunderte waren bemüht, sich die Möglichkeit einer Rettung in die als uneinnehmbar geltende Engelsburg offen zu halten und sorgten für die Instandhaltung des Fluchtkorridors. 1870, nach der Besetzung Roms durch italienische Truppen, wurden die beiden Zugänge zum Passetto vermauert – ein Symbol für die nun folgende „Eiszeit“ zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Königreich Italien. Erst 1929 sollten Kirche und italienischer Staat den Weg zu einer Aussöhnung finden. 1934 begann man an der Südseite des Fluchtkorridors mit dem Abriss der Häuser, die dort im Laufe der Jahrhunderte angebaut worden waren – sie standen Benito Mussolinis „Erneuerung“ der Ewigen Stadt entgegen; später wurden zudem neue Tordurchgänge (zur Via di Porta Angelica, Via del Mascherino und Via di Porta Castello) geschaffen.
Immer wieder hatten Experten in den vergangenen Jahrzehnten auf den desolaten Zustand des Monuments hingewiesen. Aber erst 1986 begann man mit umfassenden Restaurierungsarbeiten. Als man das Projekt anging, wurden die Verantwortlichen mit einem Problem ganz besonderer Art konfrontiert. Die Besitzverhältnisse des Passettos waren nicht gänzlich geklärt. Bei den Lateranverträgen von 1929, die zur Gründung des Vatikanstaates führten, hatten die beiden Vertragspartner – der Heilige Stuhl und das Königreich Italien – eine staatsrechtliche Zuordnung des päpstlichen Fluchtkorridors unterlassen, sie schlichtweg „vergessen“. Der Passetto wurde zum Niemandsland. Italien und der Vatikan einigten sich 1991 einvernehmlich darauf, dass die ersten achtzig Meter dem Kirchenstaat zuzurechnen seien, der weitere Verlauf des Monuments aber in die Zuständigkeit der Republik Italien falle solle.
Weil der Passetto bei den Besuchern der Ewigen Stadt auf ein großes Interesse stößt und um ihn daher für Touristen nutzen zu können, wurde jetzt am 14. Februar zwischen Italien und dem Vatikanstaat ein neues Vertragswerk beschlossen. Das entsprechende Protokoll unterzeichneten für den Heiligen Stuhl Kardinal Giuseppe Bertello, der Präsident des Governatorates für den Staat der Vatikanstadt, und für die Republik Italien Kulturminister Professor Lorenzo Ornaghi.
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