Wilfingen

Hundert Jahre gegen Viren

Als Autor beherrschte er die Tugend der Gelassenheit: Ernst Jünger wäre am 29. März 125 Jahre alt geworden.
Ernst Jünger hatte ein gutes Immunsystem
Foto: Fritz Fischer (dpa) | Ernst Jünger hatte ein gutes Immunsystem: Er arbeitete streng, diszipliniert und schützte sich so vor Depression. Das Bild zeigt den Schriftsteller bei der Betrachtung seiner Insektensammlung.

Er erfand den Waldgang, ganz ohne Corona-Krise: Die zweite Hälfte seines langen Lebens verbrachte der Schriftsteller Ernst Jünger im oberschwäbischen Wilflingen und in den umgebenden Wäldern. Ihm wäre es auch nicht in den Sinn gekommen, in Gruppen spazieren zu gehen. Nicht einmal seine Frau durfte ihn auf seinen langen täglichen Gängen begleiten. Als einsamer Denker zog er seine täglichen Runden durch die Fichtenwälder. Einsamkeit war ein hohes Gut, das es gegen die Zivilisation der Massengesellschaft zu verteidigen galt. Diese Einsamkeit war Bedingung und Realisation von Freiheit in einem. Wir brauchen erst den staatlichen Befehl, um zu dieser Einsicht zu kommen.

Krisen verpflichten, auf das Führungspersonal zu hören

Doch Jünger kämpfte nicht nur gegen den Virus der Vermassung, sondern auch gegen den der Beschleunigung. In seinem Großessay „Der Arbeiter“ träumte er Anfang der dreißiger Jahren noch von einer hochtechnisierten Welt, in der die Maschinen die Menschen ersetzen sollten. Doch spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg und seinem Maschinenfuror besann sich der Naturforscher Jünger auf den Wert der Langsamkeit. Sein Alterstagebuch „Siebzig verweht“ zeichnet auf, wie sich die Zeit, bewusst erlebt, auffaltet und vertieft. Scheinbare Kleinigkeiten wie Pflanzen am Wegesrand, Lichtreflexe im Geäst und ein winziger Käfer werden dann zu Ereignissen von universeller Bedeutung. Voraussetzung ist allerdings, dass der Beobachter sich auf den Rhythmus der Schöpfung einlässt und ihm nicht zu entkommen sucht. Unsere digital akzelerierte Zeit hätte Jünger als ein Vorzeichen des Untergangs der Zivilisation gesehen, weil sie uns das Sehen austreibt.

Es spricht aber auch für Jünger, dass er sich von manchen Viren, denen er als Wirt diente, freimachen konnte. Vom Virus des Nationalismus war er in den Zwanzigern wie so viele andere auch schwer befallen. Er sorgte mit Artikeln und Büchern für seine massenhafte Ausbreitung und schuf damit den Mythos vom soldatischen Autor, der bis heute in den Köpfen vieler Leser feststeckt. Keine Frage: Den deutschnationalen Jünger gab es tatsächlich. Aber es steht ebenso außer Frage, dass Jüngers politisches und persönliches Immunsystem so stark war, auch diese Infektion zu überwinden. Und zwar nachhaltig: Denn Jünger wurde mit der Friedensschrift und später mit Texten wie dem „Weltstaat“ zu einem Vordenker transnationaler, ja sogar transkontinentaler Kooperation – und das, ohne auf sein genuines Deutschsein zu verzichten.

Sein Lebensmotto: „Arbeiten, und nicht verzweifeln“

Es ist eine Mär, dass Jünger nie krank gewesen ist. Er scheint ein stabiles und robustes Immunsystem gehabt zu haben, das ist richtig. Aber immer wieder finden sich in seinen Aufzeichnungen Bemerkungen zu Migräne, Grippe, Depression. Wie ging er damit um? Ganz einfach: Er arbeitete streng und diszipliniert wie ein Talmudschüler. „Arbeiten, und nicht verzweifeln“ war sein Lebensmotto.

Auch wir sollten uns dieses Motto zu eigen machen und aufhören, über die mangelnde Bandbreite des Bundesnetzes zu jammern, das Netflix ruckeln lässt. Wichtig ist dabei, „Arbeit“ nicht als Maloche, sondern ganzheitlich zu verstehen. Zugegeben: Jünger war Angestellter seines künstlerischen Ich. Viele von uns sind das nicht. Sie haben einen Arbeitgeber und verrichten Tätigkeiten, die vielleicht nicht unbedingt zur Selbstverwirklichung beitragen. Aber im Grunde macht das keinen Unterschied. Für Jünger spielte der preußische Pflicht-Begriff eine wichtige Rolle. Andere mögen die Arbeit anders sehen, als Heiligung des Alltags beispielsweise oder wie der französische Schriftsteller Charles Péguy als das Werk, das man vor Gottes Angesicht verrichtet und dem daher immer die höchste Aufmerksamkeit und Sorgfalt gebührt. Diese richtig verstandene Arbeit trug Jünger durch Krisen wie den Ersten Weltkrieg, in dem er unter katastrophalen Bedingungen sein Tagebuch „In Stahlgewittern“ führte und durch den Nationalsozialismus, dem wir unter anderem die „Strahlungen“ verdanken. Warum sollten wir es dann nicht schaffen, eine vergleichsweise harmlose Corona-Quarantäne mit konzentrierter Arbeit zu überwinden?

Immer Respekt vor den politischen Amtsträgern

Jüngers Leben lehrt uns noch etwas anderes. Er hatte immer Respekt vor den politischen Amtsträgern, vom französischen Staatspräsident über den Bundeskanzler bis zum Landrat. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, sein späteres literarisches Schaffen in den Dienst einer platten politischen Aussage zu stellen. Wenn eine Gemeinschaft in eine Krise schlittert, dann ist es oberste Bürgerpflicht, den Anordnungen des Führungspersonals Folge zu leisten. Jünger war ein Mann der Ordnung, und auch wenn er „die Demokratie“ – wenn man in dieser verallgemeinernden Form so sprechen will – durchaus mit einem kritischen Auge sah, so waren der Ordnungswille, der Staatsbürgersinn bei ihm so stark ausgeprägt, dass er Respekt hatte vor den politischen Entscheidungen der Volksvertreter. Lebte er noch, so wäre es ihm sicher nicht in den Sinn gekommen, die Kanzlerin in einer Zeit der allgemeinen Krisenstimmung mit den immergleichen Vorwürfen („Merkel muss weg!“) zu konfrontieren, wie es nicht wenige der Zeitgenossen auf Twitter machen und dadurch nichts anderes beweisen als ihre Kleingeistigkeit und Verbohrtheit. Für Fundamentalkritik ist später noch Zeit. Jetzt geht es, so hätte Jüngers Diktum gelautet, um den Zusammenhalt und um die Rettung des großen Ganzen.

Der Autor, so Jünger, schwebt über den Dingen wie der Adler, er gackert und springt nicht herum wie ein aufgeregtes Huhn, das nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist. Zur Autorschaft gehört die Tugend die Désinvolture, der Gelassenheit. Diese fällt beileibe nicht vom Himmel. Man muss sie sich hart erarbeiten. Zur Désinvolture gehört eben auch ein gerüttelt Maß Abstand von den Begierden und Wünschen der eigenen Person. Christlich gesprochen handelt es sich bei der Désinvolture um eine Form von Demut. Und Jünger, der ja bekanntlich wenige Jahre vor seinem Tod zum katholischen Glauben konvertierte, hat in seinen späten Texten immer wieder über diese Haltung der Bescheidenheit, der Zurücknahme der eigenen Person, des Innehaltens des Willens geschrieben. Was ist das, was wir gerade erleben, angesichts der Ewigkeit? Welchen Stellenwert haben unsere kleinen Wünsche und Ziele im heilsgeschichtlichen Gesamtplan?

So hätte Jünger geurteilt, wäre in seinen Mantel geschlüpft, hätte seine Schuhe geschnürt und wäre für zwei Stunden im Wald verschwunden, ohne ein Telefon mitzunehmen. Tun wir es ihm gleich. Dann werden wir, wie Jünger es immer wieder vormachte, gestärkt aus der Krise hervorgehen.

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