Wagner

Herr H. lebt sein Trauma

Bayreuth gestaltet den „Fliegenden Holländer“ als Familientragödie ohne Transzendenz. Szenisch und musikalisch ist alles gut. Doch es bleiben Fragen.
2021 - Der fliegende Holländer
Foto: dpa | Im Wintergarten des Hauses Daland treffen die Protagonisten aufeinander.

H. kehrt in seine Heimatstadt zurück. Ein Trauma hat ihn einst hinausgetrieben, aufs Meer oder ins Irgendwohin. Jetzt hat er wieder das feste Land unter den Füßen, sitzt in einer Kneipe, die auch in Frank Castorfs Bayreuther „Ring“ stehen könnte, schaut zu, wie sich die Leute betrinken und ein Tisch unter dem alkoholisiert gesponnenen Seemannsgarn von Südwind und Mädels zusammenbricht. Ist er jetzt angebrochen, der „Vernichtungstag“, an dem die Welt zusammenkracht? Erst einmal ist die Frist um, und Herr H. stimmt seinen Monolog an, um den stierblickigen Trinkrundenkumpels etwas zu erzählen. Dann zahlt er die Zeche: Ein reicher Mann ist er geworden, der H.

Man muss es ihm lassen: Dmitri Tcherniakov weiß detailreich zu erzählen. Nur, wozu und mit welchem Ziel er das tut, ist schwer zu erschließen. Doch zunächst behauptet die szenische Exposition während der Ouvertüre dieses neuen Bayreuther „Fliegenden Holländers“ eine fasslich-spannende Geschichte: Im mystischen Dunst eines „immer wiederkehrenden Traums“ sehen wir ein Kind auf einem diesigen Platz, umstellt von Häusern, die aus der abgelebten Provinz-Moderne des Nachkriegs-Wiederaufbaus am Niederrhein stammen könnten. Die Mutter schickt den Jungen weg. Sie trifft sich mit einem Mann, den sie leidenschaftlich küsst. Das ist von Tcherniakov genau auf die Musik komponiert – auf das aufschäumende Holländer-Thema wie auf die sehnsuchtsvolle Holzbläserkantilene der Senta-Ballade vom „bleichen Mann“.

„Die Kirche tritt im Bühnenbild (...) zurück;
von den Verwaltern der Transzendenz sei nichts zu erwarten“

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Später wirft sich der Junge, als schaukle er hospitalisiert, zwischen den Mauern einer engen Gasse hin und her, während die Frau von ihrem Liebhaber zu Boden gestoßen wird. Die Stadtgesellschaft marschiert auf, mit Campingtisch und Plastikstühlen; die junge Frau wird aggressiv ausgegrenzt – eine Nordland-Santuzza. Sie sucht vergeblich Hilfe an der erleuchteten Tür der Kirche: Der Pfarrer weist sie kopfschüttelnd ab. Ein sprechendes Detail: Die Kirche tritt im Bühnenbild – ebenfalls von Tcherniakov entworfen – zurück; von den Verwaltern der Transzendenz sei nichts zu erwarten. Im Finale der Ouvertüre stürzt sich die Unglückliche aus dem Speicherboden, baumelt am Kran, unter sich auf der Straße der schockierte Bub.

Die Geschichte des Holländers also, ein Trauma. Nichts von „in Ewigkeit lass ich nicht ab“. Verdammt durch Erinnerung. Was macht der mächtige Mann mit dem kahlen Schädel, den unheimlichen Augen und dem Norwegerpullover nun? Zelebriert er den rachsüchtigen „Besuch des alten H.“? Man könnte es meinen, denn am Ende lohen die Flammen in den Fenstern der Häuser: Der Holländer verurteilt die Stadt zur Vernichtung, heißt es im Programmheft. Die „Götterdämmerung“ lässt grüßen.

Szenisch ist die Aufführung meisterhaft inszeniert

Doch die Geschehnisse vorher führen nicht auf dieses Ziel hin. Tcherniakov zündet ausgefeilt gestaltete Geistesblitze, die aufleuchten und verrauchen. Seine Senta ist ein rebellisches Mädel mit roter Strähne im weißblonden Haar, die sich mit vollem Körpereinsatz in den Mythos vom Holländer wirft, der „Frau Mary“ das ominöse Bild aus der Handtasche reißt und den Eindruck erweckt, sie müsse nicht nur raus aus der Enge des Kaffs, sondern auch aus den Grenzen ihres jugendlichen Körpers. Der Holländer wühlt ihr Gemüt auf, und bis zum Ende hält die großartig schauspielernde Asmik Grigorian durch, jeden Halbsatz mit ausladenden Arm- und Handbewegungen zu unterstreichen. Das ist einige Male einfach zu viel gespielt, entspricht aber dem Charakter der flammenden Pubertäts-Gefühle, die dem Mädchen bisweilen den Atem rauben.

Woher aber die Projektion auf den Holländer? Die Begegnung im Wintergarten von Haus Daland, beim traulichen Nachtmahl zu viert, bleibt bei Tcherniakov seltsam unbestimmt. Das mag daran liegen, dass er in diesem Moment eine andere Geschichte explizit macht, die sich als entscheidend herausstellen wird. Denn noch eine andere Frau reagiert auf den seltsamen Gast: Mary, die im großmustrigen Mantel der Kostümbildnerin Elena Zaytsevas bereits beim Mobbing der Holländer-Mutter beteiligt war, ahnt etwas. Sie, hier offenbar die Lebensgefährtin Dalands und Mutter Sentas, folgt missmutig dem Dialog der außer sich stehenden jungen Frau mit dem fremden Mann, verschränkt verschlossen die Arme. Nach dem Essen kehrt sie alleine in den Glasbau zurück, bläst die Kerzen aus und sinkt grübelnd an den Tisch – wieder eines der meisterhaft gesetzten szenischen Zeichen Tcherniakovs.

Das Trauma wird von einem Schuss beendet

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Es führt auf direktem Weg zum Ende: Während der Holländer seine Geschichte zum Besten gibt, die im Zusammenhang der Inszenierung ziemlich sinnfrei bleibt, legt Frau Mary mit der Flinte an. Ein Schuss kracht, und der Holländer hat in einfacher Version, was er sich gewünscht hatte – den „zehnfachen Tod“, der ihm „erwünschte Lust“ sei. Zitternd sinkt Mary zusammen, aufgefangen von Senta, die aufgelöst und alleine durchs Chaos der Plastikmöbel streift. Das Trauma ist zu Ende – oder beginnt es erst wieder?

Nun hat also auch Bayreuth „seinen“ Tcherniakov, eine jener neu gelesenen Geschichten, mit denen der Moskauer Regisseur und Bühnengestalter weltweit Furore macht. Aber es bleibt das Problem, das von „Parsifal“ in Berlin über die dortige „Verlobung im Kloster“ von Sergej Prokofjew bis hin zu Francis Poulencs skandalumwitterten „Dialogues des Carmélites“ und dem verqueren „Freischütz“ in München reicht. Tcherniakovs Ideen zünden, seine Bildeinfälle können Magie entfalten, die Komplexität des Ausgedachten und seine Bühnenpräsenz können atemberaubend sein.

Risiken einer dynamischen Kunstauffassung

Aber seine Erzählungen wirken selbstzweckhaft, in sich gekrümmt, treffen sich mit dem gemeinten Stück nur rhapsodisch, öffnen Löcher im Gewebe der Gedanken, die sich nicht eindeutig schließen lassen wollen. Das selbstbewusste Subjekt tritt dem Kunstwerk gegenüber, sucht den individuellen, non-konformen Dialog. Der kann das Reden aneinander vorbei bedingen, oder nur noch punktuelle, willkürlich scheinende Momente der Berührung. Es sind die Risiken einer dynamischen Kunstauffassung, die gleichzeitig grandiose Chancen öffnen. Im Falle dieses „Holländers“ öffnet sich der Horizont nicht, verstricken sich die Chancen in den Fäden der Erzählung.

Im musikalischen Teil überzeugten die Frauen wie die Dirigentin Oksana Lyniv oder die aus Litauen stammende Sängerin Asmik Grigorian. Das Publikum auf den 911 – statt sonst rund 1900 – belegten Klappsitzen trampelt und rast.

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Werner Häussner Frank Castorf

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