Weihnachten und Gruselgeschichten? Das bringt man nicht unbedingt miteinander zusammen. Denn ist der unselige Vorweihnachtsrummel, der Stress beim Kauf der Geschenke und die Vorbereitung des Fests erst einmal überstanden, liegen die Machtkämpfe, wer den Christbaum schmücken darf oder wie die Weihnachtsgans zubereitet werden soll, hinter einem, kann Weihnachten ja tatsächlich die friedliche und besinnliche Festzeit sein, welche die Christen bis heute in ihm sehen. Die Geburt des Erlösers, der das Licht und die Hoffnung in die Welt bringt.
Tatsächlich hatte Weihnachten – neben dieser andächtigen Seite und abgesehen von all dem gruseligen Kommerz-Rummel – in vielen Breiten Europas aber auch stets eine andere, eine dunkel-mysteriöse Seite. Nennt man die Zeit zwischen Heiligabend und der Erscheinung des Herrn (Ephiphanias) doch auch die Zeit der Rauhnächte oder der Zwölf Nächte. Eine Zeit, in der alles ein bisschen auf dem Kopf steht, so wie in William Shakespeares berühmter Komödie „Was ihr wollt“, die im englischen Original „Twelfth Night“ heißt, also die Zwölf Nächte, an denen die verworrene Handlung rund um Herzog Orsino, die reiche Gräfin Olivia und Viola und Sebastian spielt, schon im Titel thematisiert. Orsino liebt Olivia, Viola liebt Orsino, Olivia liebt Viola, die sich als Sebastian verkleidet hat – ein heilloser Mummenschanz, der aber rechtzeitig vor dem Dreikönigfest eine gute Lösung erfährt.
Ist dieser Mummenschanz – fern von Shakespeares Fiktion und Phantasie – der Grund, wieso die realen Christen während der Rauhnächte niemals nachließen, sich trotz der Weihnachtsfreude mit viel Fasten und Gebet zusätzlich zu stärken? Weiß man doch, dass immer dann, wenn die Tür zum Chaos offen steht, sie auch für Dämonen und unerlöste Seelen geöffnet ist. Geradezu wilde Jagden derartiger Gestalten würden während der Rauhnächte stattfinden, so glaubte man damals in vielen Gegenden Europas, aber eben auch in Shakespeares Heimat Großbritannien, wo man sich gegenüber Gespenstern bis heute einen gewissen Respekt bewahrt hat. Etwas von dieser dunklen Seite der Weihnachtszeit ist im (Unter-)Bewusstsein der Menschen wohl nie ganz erloschen. Oder ist es ein Zufall, dass die berühmten und bis heute ungeheuer populären Weihnachtserzählungen von Charles Dickens (1812–1870) alle etwas mit Geistern zu tun haben? Und zwar nicht nur die bekannteste Geschichte, „Ein Weihnachtslied in Prosa“ (A Christmas Carol, 1843), in welcher der herzlose Ebenezer Scrooge durch die Begegnung mit dem Geist der Weihnacht zum Menschenfreund mutiert. Auch in den anderen Weihnachts-Erzählungen („Die Glocken“, „Der verwünschte Mann“) des Bestseller-Autors reichen sich Feen, Geister und Kobolde sozusagen die Hand, um – hier kann man als Christ ruhig mit der Stirn runzeln – die Menschen zum Besseren zu führen.
Auch mit der Geschichte „von den Kobolden, die einen Totengräber stahlen“ und ihm für seine schlechte Laune einen Denkzettel verpassten, schuf Charles Dickens (1812–1870) in seinem ersten Roman „Die Pickwickier“ („The Posthumous Papers of the Pickwick Club“, 1836/37) eine Weihnachts-Spuk-Episode, die bis heute nachwirkt und eindrucksvoll belegt, dass Weihnachten und Geister bis heute im angelsächsischen und europäischen Kulturkreis zusammengehören.
Demnach trug sich an einem Weihnachtsabend vor mehr als 150 Jahren nämlich folgendes auf der Insel zu: Kurz bevor es dunkel wurde, schulterte der Totengräber Gabriel Grub seinen Spaten, zündete die Laterne an und machte sich auf den Weg zum alten Kirchhof, um ein Grab fertig auszuschaufeln, das man für den nächsten Morgen brauchte. Vielleicht war seine Persönlichkeit schuld daran, dass er Totengräber geworden war, vielleicht war sein Beruf schuld an seinem Charakter: Grub war ein Griesgram wie er im Buche steht, finster, störrisch und grob, ein Eigenbrötler, der sein Vergnügen am Verdruss seiner Mitmenschen fand und seinen Verdruss an ihrer Freude. Für den fröhlichen Gruß seiner Nachbarn hatte er nur ein kurzes, grimmiges Brummen übrig und seinen größten Spaß hatte Grub daran, einem Jungen, der aus voller Kehle ein Weihnachtslied schmetterte, in einer finsteren Gasse aufzulauern und ihm kräftig heimzuleuchten.
Deshalb fiel dem Alten das Graben leicht, obwohl sich die hart gefrorene Erde nur mühsam herausschaufeln ließ. Endlich fertig, setzte er sich auf einen Grabstein, zog eine Korbflasche mit Wacholderschnaps aus der Tasche und knurrte verdrießlich in die Kälte: „Einen Sarg zu Weihnachten! Ein Weihnachtsgeschenk! Ho, Ho, Ho…“- „Ho, Ho, Ho…!“, wiederholte dicht hinter ihm eine Stimme. Gabriel Grub hielt inne und blickte sich um. Bleiches Mondlicht erhellte den Kirchhof. Der Schnee breitete über die Gräber eine Decke, dass es aussah, als läge dort Leichen, bedeckt von den sich aufwölbenden Laken. Nichts rührte sich, nicht das leiseste Rascheln durchbrach die Stille. „Es war wohl nur das Echo…“, grummelte er und wollte sich endlich seinen Wacholder schmecken lassen. „Es war nicht das Echo“, widersprach die Stimme hinter ihm. Grub fuhr herum und sah etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: eine unheimliche Gestalt, eine Art Kobold, der aussah, als sitze er schon seit mehreren Jahrhunderten auf diesem Grabstein und wolle von dem knurrigen Totengräber wissen, wieso er eigentlich ausgerechnet in der Heiligen Nacht auf dem Friedhof herumwandere, um ein Grab zu schaufeln.
Soweit ein Auszug – und man kann sich leicht vorstellen, mit welchem Wohlbehagen und Understatement („Stiff lips!“ – Bewahre Selbstdisziplin) unsere britischen Freunde nach dem Kirchbesuch abends am Kamin zusammensaßen, um bei prasselndem Feuer sich derlei Gruseliges zu erzählen. Auf Grundlage ihrer eigenen Weltliteratur und Bräuche. Denn wie gesagt: Dickens schöpfte nicht aus dem Nichts. Für den, der es so sehen wollte, tauchten die Gespenster schon vor ihm gerade in den langen dunklen Winternächten aus dem Nebel auf: Kutschen, die in Höllentempo aus dem Nichts erscheinen, an einem vorbei galoppieren und ebenso schnell verschwinden wie sie gekommen sind, weiße und schwarze Ladys, graue Mönche, Skelette und heulende Wölfe, die sich, bevorzugt seit den Tagen Queen Victorias, auf uralten Friedhöfen, sturmumtosten Hochmooren, kalten Kirchen und Schlossruinen breitmachen. Noch zu Dickens' Lebzeiten im sich eigentlich immer aufgeklärter gebierenden neunzehnten Jahrhundert bemerkte ein Beobachter der weihnachtlichen Gespensterszenerie treffend. „Wenn die Sonne erstirbt, gewinnt die Dunkelheit große und böse Macht über alle Dinge.“
Wenn die Sonne wieder wächst, also die Tage länger werden, heißt das aber eben nicht, dass sofort und automatisch die unheimlichen Bedrohungen gewichen sind. Und so gehören – nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa – Weihnachten und Epiphanias und auch Silvester aufs Engste zusammen. Irgendwie logisch. Denn dass das lauten Knallen und Böllern etwas mit dem Austreiben böser Geister zu tun hat, liegt auf der Hand.
Ebenso wie das bei weniger frommen Zeitgenossen bis heute hin so beliebte Bleigießen zur Zeit der Jahreswende eindeutig aus dem Brauchtum der Rauhnächte stammt. Glaubte man doch, dass während dieses Zeitraums jegliche Form des Orakelns günstig sei. Für Christen, deren Silvesterfeier in Abgrenzung zu diesem ganzen heidnischen Spuk das Christkönigsfest, also der letzte Sonntag vor dem ersten Advent ist, eine unakzeptable Form der Zukunftsbefragung. Die aber offensichtlich als Bestandteil der modernen Event-Kultur munter weitergeht. Ebenso wie Kartenlegen und astrologische Befragungen. Denn bei denjenigen, die ihre Neugier nach dem Unerforschten und Unbekannten nicht an Jesus Christus binden, findet magisches Denken leicht eine Einfalltür.
Immerhin: ,,Die Naturgesetze werden sich der britischen Aristokratie zuliebe vermutlich nicht aufheben lassen“, meint Hiram B. Otis, der amerikanische Gesandte, der in Oscar Wildes „Gespenst von Canterville“ das Spukhaus kauft. Und so taucht in manchen britischen Gespenstergeschichten, die sozusagen die zwölf Rauhnächte auf 365 Nächte ausdehnen, der sogenannte „skeptische Gast“ auf. Der wischt sämtliche Spuk-Phänomene mit leichter Hand weg und erklärt zum Schrecken aller, er wolle noch in dieser Nacht in dem bewussten Spukzimmer schlafen. Jedermann beschwört ihn, nicht so tollkühn zu sein, doch er lässt sich von seinem Entschluss nicht abbringen, begibt sich unbekümmert ins Spukzimmer, schließt die Tür – und am nächsten Morgen hat er schneeweißes Haar!
Geisterfahrung im verrufenen Gästezimmer eines Schlosses – da können dem, der nicht gefestigt im Glauben ist und statt auf die Sakramente nur auf seine eigene kleine Vernunft oder – schlimmer noch – auf die Abwehrkraft von Amuletten setzt, nicht bloß die Haare zu Berge stehen. Es zeigt sich eben, gerade während der Weihnachtszeit oder der Rauhnächte, was Shakespeare im „Hamlet“ so schön ausgedrückt hat: „Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.“ Für Christen, die an die gnadenbringende Weihnachtszeit glauben, sind die Zwölf Nächte kein Grund zu Furcht und Besorgnis!
Das wird auch bei Charles Dickens im „Weihnachtslied“ angedeutet. Als dem Geizhals Scrooge der Geist seines verstorbenen Teilhabers, der Wucherer Marley, erscheint, erklärt dieser todtraurig: „Mein Geschäft hätte darin bestehen sollen, mehr Menschlichkeit zu besitzen. Um das Gemeinwohl, Liebe, Güte – darum hätte ich mich mehr kümmern sollen. Ich lebte unter meinen Mitmenschen, die Augen stets auf den Boden gerichtet. Warum habe ich nie aufgeblickt zu dem legendären Stern, der die Weisen zu einem Stall führte? Es hätte sicher noch andere arme Hütten gegeben, zu denen mich sein Licht hätte geleiten können.“ Das stimmt. Vor allem und zunächst aber geht es um die eine Krippe. Sie ist der messianische Angelpunkt der Zeit. Der wahre Weihnachtsknaller, wenn man so will.