Herr Professor Kempen, der Hochschulverband hat eine Erklärung herausgegeben, in der er vor den Folgen der Political Correctness für die Wissenschaft warnt. Was war der Anlass?
Schon seit längerem lässt sich feststellen: Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt. Das hat auch Auswirkungen auf die Debattenkultur an Universitäten. Deswegen haben wir erneut auf unserem letzten Verbandstag Anfang April nahezu einstimmig eine Resolution zur Verteidigung der freien Debattenkultur beschlossen. Wir haben auch nur positive Rückmeldungen bekommen, aus allen politischen Richtungen. Der aktuelle Fall der Ethnologin Susanne Schröter, die eine wissenschaftliche Konferenz über das Kopftuch im Islam an der Frankfurter Universität durchführt und deswegen von einer Gruppe von Studenten angefeindet worden ist, belegt, dass es tatsächlich diese Tendenzen gibt, die Meinungsfreiheit einzugrenzen. Andere Fälle aus der Vergangenheit bestätigen das leider.
Wieso ist die Meinungsfreiheit gerade für Hochschullehrer und Wissenschaftler von besonderer Bedeutung?
Die Auseinandersetzung mit diesem Thema dient der Selbstvergewisserung. Sowohl die Freiheit der Wissenschaft als auch die Meinungsfreiheit gehören zu den Grundrechten, die das Grundgesetz garantiert. Wenn sie in Gefahr geraten, müssen wir uns dazu äußern. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind rechtlich gesetzt. Volksverhetzung etwa ist ein Straftatbestand. Innerhalb des rechtlich garantierten Rahmens aber herrscht Freiheit.
Die Universität ist also in besonderer Weise ein Ort, in dem eine freie Debattenkultur herrschen muss. Ist sie auch der Ort, wo Studenten lernen müssen, diese freie Debatte zu pflegen? Die Angriffe gegen einzelne Hochschullehrer, etwa gegen den Historiker Jörg Baberwoski und den Politikwissenschaftler Herfried Münkler gingen in der Vergangenheit ja von studentischen Gruppen aus. Muss die Universität hier ihren Bildungsauftrag gegenüber den Studenten stärker wahrnehmen?
Hochschullehrer bilden in der Tat überwiegend Studenten aus, die später nicht Wissenschaftler werden, sondern in einen akademischen Beruf gehen werden. An Universitäten bereiten wir sie auch darauf vor, später als Staatsbürger am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen. Sie lernen: Die Suche nach Wahrheit und Erkenntnis lebt vom leidenschaftlichen, heftigen und kontroversen Ringen um Thesen, Fakten, Argumente und Beweise. An den Universitäten muss daher jeder Student sowie jeder Wissenschaftler seine Forschungsergebnisse, Thesen und Ansichten ohne Angst zur Diskussion stellen können. Widersprechende Meinungen müssen respektiert und ausgehalten werden. Differenzen zu Andersdenkenden sind im argumentativen Streit auszutragen – nicht mit Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt. Hochschullehrer müssen hier Vorbilder sein.
Wie kann die Meinungsfreiheit an den Universitäten besser geschützt werden?
Unsere Resolution ist an jeden einzelnen Wissenschaftler, aber auch an die Hochschulleitungen gerichtet. Von ihnen erwarten wir, dass sie mit den ihnen rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln die Meinungsfreiheit schützen. Dies gilt auch dann, wenn etwa ein Repräsentant aus der Politik an die Universität eingeladen wird und anschließend Proteste angekündigt werden. oder folgen. Wenn solche Veranstaltungen dann nur unter Polizeischutz stattfinden können, ist das natürlich sehr bedauerlich. Man darf sie aber nicht in einer Art vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Protestierern einfach absagen. Ihre wichtige Aufgabe, Debatten anzustoßen und zu strukturieren, können Universitäten nur ausfüllen, wenn nicht denjenigen nachgegeben wird, die sie maßregeln wollen, am lautesten schreien, mit Gewalt drohen oder sie sogar anwenden.
Woher kommt diese Tendenz, die Meinungsfreiheit einschränken zu wollen?
Sie kommt vor allem aus dem anglo-amerikanischen Hochschulraum. Dort ist die Entwicklung zu beobachten, niemandem eine Meinung zuzumuten, die dieser als unangemessen empfinden könnte. Diese Auffassung verbreitet sich auch in Deutschland. Jenen, die sich echauffieren und „Political Correctness“ einfordern, geht es im Kern um respektvollen Umgang miteinander. Problematisch wird es, wenn sie das, was sie für richtig erachten, absolut setzen. Dann ist ein Diskurs nicht möglich.
Zur Person
Bernhard Kempen, Jahrgang 1960, lehrt seit 2001 als Universitätsprofessor Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität zu Köln. Zugleich ist er Direktor des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und des Instituts für deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Angelegenheiten der Deutschen Bischofskonferenz und leitet in deren Auftrag das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Soziale Menschenrechte“. Seit 2004 ist Kempen Präsident des Deutschen Hochschulverbandes. Der Deutsche Hochschulverband versteht sich als Interessenvertretung der Hochschullehrer. Mit rund 32 000 Mitgliedern ist er die größte fächerübergreifende Wissenschaftsvereinigung Europas.
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