Die Bilder aus dem Spätsommer 2015 bleiben vielen Menschen noch gut in Erinnerung: Tausende Flüchtlinge machen sich von Budapest zur österreichischen Grenze auf, und zwingen insbesondere die politische Führung Deutschlands dazu, auf die immer bedrohlicher werdende Situation zu reagieren. Die unkontrollierte Grenzöffnung spaltet das Land: Loben die einen Merkels humanitäres Engagement, so kritisieren die anderen die Entscheidung als nicht verfassungskonform.
In seinem Sachbuch „Die Getriebenen“ stellte „Welt“-Korrespondent Robin Alexander die These auf, weder die Kanzlerin noch die Bundesregierung hätten planvoll gehandelt. Sie seien eher von den sich überschlagenden Ereignissen Getriebene gewesen; daher der Buchtitel. In seinem auf Recherchen in Berlin, Brüssel, Wien, Budapest und der Türkei basierenden Buch rekonstruiert er die Schlüsselentscheidungen.
Nur eine Annäherung an die Wirklichkeit
Der gleichnamige Fernseh-Spielfilm, den die ARD am Mittwoch, den 15. April ausstrahlt beziehungsweise seit dem 8. April in der ARD-Mediathek abgerufen werden kann, wurde „nach Motiven des Sachbuchs von Robin Alexander“ gedreht. Zwar versichert Volker Herres, Programmdirektor Erstes Deutsches Fernsehen, der Film sei „bis ins Detail faktenbasiert“ und komme „der Wahrheit sehr nahe“. Eine Schrifttafel weist allerdings zu Beginn: „Die Spielszenen können nur eine Annäherung an das wirkliche Geschehen sein.“ Denn sie stellen selbstverständlich eine Verdichtung der Geschehnisse dar, in der die Fiktion die Leerstellen möglichst authentisch ergänzt.
Entsprechend dem komplexen Sachverhalt zeigt „Die Getriebenen“ sehr verschiedene Standpunkte. Dafür werden Name und Funktion der Akteure jeweils eingeblendet. Das hemmt zwar den Erzählfluss, hilft dem Zuschauer aber, den Überblick zu behalten – schließlich sehen die Schauspieler den dargestellten Personen nicht immer so ähnlich, dass diese sofort identifiziert werden können. Einleuchtend ist es freilich bei Imogen Kogge, die Angela Merkel darstellt. Aber schon bei Josef Bierbichler als Horst Seehofer oder Wolfgang Pregler als Thomas de Maiziere kann der Zuschauer für einen solchen Hinweis dankbar sein.
Der innenpolitische Druck wird immer lauter
„Die Getriebenen“ rekonstruiert aus Merkels Sicht die 63 Tage im Sommer 2015, bevor die Bundeskanzlerin ihre Schlüsselentscheidung in der Flüchtlingspolitik fällt. Der Film setzt im Juli 2015 ein, als bei einem nächtlichen Gipfeltreffen in Brüssel entschieden wird, dass Griechenland in der Eurozone bleibt. Zur gleichen Zeit fliehen immer mehr Menschen nach Europa, bis Griechenland und Italien darunter zusehends kapitulieren.
Drehbuchautor Florian Oeller und Regisseur Stephan Wagner zeigen den innenpolitischen Druck, der durch die Kritik am Flüchtlingsmanagement des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, aber auch am Innenministerium und an der Person von Bundesminister de Maiziere immer lauter wird. Weisen die Sicherheitsbehörden immer schärfer auf die Auswirkungen der Zuwanderung auf die innere Sicherheit hin, so vertritt die CSU einen flüchtlingskritischen Kurs, und Vizekanzler Sigmar Gabriel (Timo Dierkes) versucht, sich mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen unverhohlen gegen die Bundeskanzlerin zu profilieren.
Orbán als der „Bösewicht“
Als Wendepunkte werden Merkels Zusammentreffen mit dem geflüchteten Mädchen Reem Sahwil in einer Gesprächsrunde mit Schülern in Rostock sowie der Besuch einer Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau dargestellt. Um Authentizität zu betonen, greift der Regisseur auf ein besonderes Stilmittel zurück: Die echte Schülerin wird mit der Merkel-Schauspielerin zusammengeschnitten; einen Augenblick lang ist auch die echte Bundeskanzlerin zu sehen. Merkel, die in der Öffentlichkeit „als kalt wahrgenommen wird“, macht die Flüchtlingskrise zur „Chefsache“. Sie setzt sich für eine Gesamtlösung in der Europäischen Union ein, was allerdings nicht gelang. Sie trifft hier auf den Widerstand insbesondere von Ungarns Präsidenten Viktor Orbán (Radu Banzaru), der immer mehr als der „Bösewicht“ in diesem Krimi dargestellt wird.
„Die Getriebenen“ blickt in die Hinterzimmer der Entscheidungsträger, um die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Ausnahmesituation sowie den auf der Bundeskanzlerin und den Ministerien lastenden Entscheidungsdruck zu verdeutlichen. Dadurch versucht der Film den Gründen nachzuspüren, die Angela Merkel bewogen, die Grenzen für die vielen über Ungarn und Österreich nach Deutschland drängenden Flüchtlinge nicht zu schließen. „Es sind Deutungsangebote wie diese, die einen Spielfilm von einem Dokumentarfilm unterscheiden, auch wenn der Spielfilm auf Fakten basiert“, heißt es in einem Statement der ARD-Redaktion. Jedenfalls liefern solche Ansätze Argumente für eine Diskussion, die sicher noch anhalten wird.
„Die Getriebenen“,
Deutschland 2020. Drehbuch: Florian Oeller, Regie: Stephan Wagner,118 Minuten. Mittwoch, den 15. April, 20.15 Uhr, ARD oder ab dem 8. April in der ARD-Mediathek.
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