Die Netflix-Serie „Kaleidoskop“ wurde als eine Art Zuschauer-Experiment beworben. Es sei die erste Serie, deren acht Episoden in beliebiger Reihenfolge gesehen werden können. Dementsprechend sind die Folgen nicht durchnummeriert, sondern tragen Farbennamen. In der vorgeschalteten, knapp einminütigen Folge „Schwarz“ wird erklärt, jede Episode sei ein „Teil des Puzzles“, das jeder für sich zusammentragen kann.
Vorliegende Besprechung basiert auf einer chronologischen Sichtung der Folgen: angefangen mit „Lila“ und endend mit „Pink“. Dadurch ergibt sich eine lineare, aber auch konventionelle Erzählweise des Raubüberfalls und von dessen Vorgeschichte, Vorbereitungen und Folgen.
Ein loses Fundament wahrer Tatsachen
„Kaleidoskop“ handelt von Meisterdieben, die sich für ihren bisher größten Coup vorgenommen haben, einen vermeintlich unzerstörbaren Safe zu knacken und sowohl eines der wirkungsvollsten Sicherheitsteams der Welt als auch die auf den Fall angesetzten Ermittler zu überlisten.
Der Kopf der Diebesbande Leo Pap (Giancarlo Esposito) plant offensichtlich den Raubüberfall seit 25 Jahren. Im Tresor von Roger Salas (Rufus Sewell) befinden sich Staatsanleihen im Wert von sieben Milliarden Dollar. Mithilfe der zwielichtigen Anwältin Ava Mercer (Paz Vega) stellt er ein Team zusammen und beschafft das nötige Kleingeld für die Vorbereitungen des Coups.
Die Serie basiert lose auf wahren Tatsachen: Als im Jahr 2012 der gewaltige Wirbelsturm „Sandy“ in New York wütete, verschwanden in Manhattan Anleihen im Wert von Milliarden Dollar. Von diesem „größten Geheimnis der Wall Street“, so die „New York Post“, hat sich Serienentwickler Eric Garcia inspirieren lassen.
Fragen nach Vergeltung, Habgier und Loyalität
Die Ähnlichkeit von „Kaleidoskop“ insbesondere mit der ebenfalls Netflix-Serie „Haus des Geldes“ ist unübersehbar. In einem unterscheidet sich „Kaleidoskop“ indes von der spanischen Serie und deren koreanischem Remake sowie von anderen Vertretern des „Heist“ (Raub- oder Gaunerfilme)-Genres: Zur Erzählstrategie von „Haus des Geldes“ gehört, dass ständig Rückblenden in die Handlung eingestreut werden: Immer wenn die Situation besonders brenzlig wird, verrät eine Rückblende, dass dies bereits von Anfang an einkalkuliert war. Bei „Kaleidoskop“ werden keine Rückblenden in die Folgen eingebaut. Wenn sich ein Zuschauer für eine andere als die chronologische Reihenfolge entscheidet, dann funktioniert die Folge „Lila“, in der Ereignisse 24 Jahre vor dem Raubüberfall erzählt werden, eben als geschlossene Rückblende. Auf der andern Seite der Zeitleiste steht die Folge „Pink“, die sechs Monate nach der Tat angesiedelt ist.
Die unterschiedlichen Charaktere der sogenannten Meisterdiebe, die Leo Pap um sich geschart hat, könnten der Serie zusätzliches Interesse bescheren. Dass sie unterschiedlich detailreich gezeichnet sind, hängt womöglich damit zusammen, dass etliche von ihnen einfach den genretypischen Konventionen entsprechen, auch wenn der eine oder andere von ihnen ein eigenes Geheimnis mit sich trägt – was freilich auch zum Genre passt. Die Serie setzt insbesondere auf den Gegensatz zwischen Leo Pap und Roger Salas, um die Fragen von Vergeltung und Habgier, aber auch von Loyalität einzuführen.
Solide genretypische Unterhaltung
Unter den Darstellern sticht insbesondere Giancarlo Esposito heraus, der die unterschiedlichen Motivationen für den Raub sowie die verschiedenen Empfindungen etwa in der Beziehung zu seiner Tochter glaubwürdig darstellt. Weniger Raum bekommt zwar Niousha Noor für ihre FBI-Agentin, die sich in den Fall verbeißt und um jeden Preis die Diebe überführen will. Sie bleibt jedoch ebenfalls in Erinnerung.
Ein hübscher Einfall der Serienmacher um Eric Garcia besteht darin, dass in jeder Folge auch die entsprechende Farbe dominiert – das spiegelt sich nicht nur in der Farbe des Vorspanns wider, sondern auch in einigen Details, etwa in einem lila Mantel oder in einem pinken Adidas-Sweatshirt.
Unabhängig vom kaleidoskopischen Effekt verschiedener Zusammenstellung des „Puzzles“ erweist sich die Netflix-Serie – wenigstens in der chronologischen Folge – als durchaus solide genretypische Unterhaltung, die geradezu als klassisch bezeichnet werden könnte, weil jeder Zeitebene eine in der Hinsicht geschlossene Folge gewidmet wird und nicht jede einzelne Folge in der Zeit vorwärts und rückwärts springt.
Auch wenn sich „Kaleidoskop“ als doch nicht so komplex herausstellt, wie die Serie beworben wird – als wäre sie eine Art „Pulp Fiction“ unter den Serien –, stimmt das Tempo. Die eine oder andere Wendung in der Handlung sorgt ebenfalls dafür, dass sie so unterhält, wie man es von einer „Heist“-Serie erwartet. Sie hat jedenfalls offensichtlich das Interesse der Zuschauer geweckt: „Kaleidoskop“ hielt sich drei Tage lang in Deutschland auf Platz 1 der meistgesehenen Serien bei Netflix.
„Kaleidoskop“, Serienentwickler: Eric Garcia, USA 2022, acht Folgen von 47-55 Minuten. Auf Netflix.
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