Seit seinem internationalen Durchbruch mit dem Spielfilm „Die syrische Braut“ (2005) hat sich der 1954 in Jerusalem geborene Regisseur Eran Riklis als sensibler Chronist weiblicher Lebensrealitäten im Spannungsfeld politischer Konflikte erwiesen. „Lemon Tree“ (2008) und „Mein Herz tanzt“ (2015) machten ihn zu einem der in Europa bekanntesten israelischen Filmregisseure. Seine mit verschiedenen Preisen ausgezeichneten Filme erzählen anhand individueller Schicksale eindringlich von den alltäglichen Zumutungen, welche die politische Lage im Nahen Osten den Menschen abverlangt, und von der Herausforderung, Identität unter gesellschaftlichem Druck zu behaupten.
Mit „Lolita lesen in Teheran“ führt Riklis diesen Ansatz weiter, indem er Azar Nafisis autobiografische Erinnerungen als zurückhaltend inszeniertes, dabei tief bewegendes Filmdrama adaptiert. Ohne je pathetisch zu geraten, zeichnet er das Porträt jener Frauen, die im revolutionären Iran um einen Freiraum für intellektuelles Leben ringen.
Bekannteste Schauspielerin im Iran
Das von Marjorie David verfasste Drehbuch folgt Nafisis Weg über fast ein Vierteljahrhundert, von der optimistischen Rückkehr aus den USA 1979 bis zum nüchternen Aufbruch ins Exil Anfang der 2000er. Diese lange Zeitspanne setzt der Film in episodische Szenen um, deren abrupte Sprünge teils irritieren, zugleich aber die dramatische Zuspitzung der politischen Verhältnisse spürbar machen. Golshifteh Farahani, derzeit durch ihre Mitwirkung in Hollywood-Filmen und zuletzt auch in der Apple TV-Serie „Infiltration“ die wohl bekannteste iranische Schauspielerin, gestaltet die Titelrolle mit einer Mischung aus Zurückhaltung und Intensität – ihr Gesicht wird zur Chronik eines Landes, das seinen Töchtern die Stimmen raubt.
Riklis schildert die zunehmende Repression nicht als laute Anklage, sondern als allmähliche Einengung des Alltags. Bald werden gemischte Seminare getrennt, strengere Kleidervorschriften eingeführt, Bücher verbannt. Eindrucksvoll: die Szene, in der eine Universitätswache Nafisi wegen ihres unbedeckten Kopfes in Berufung auf das „Hijab-Gesetz“ abweist. Im Zentrum steht nicht Empörung, sondern das leise Wissen um einen kulturellen Verlust, der tiefer wirkt als jeder äußere Zwang. Hier zeigt sich Riklis' Fähigkeit, politische Realität in menschliche Gesten zu übersetzen.
Gelegentlich tendiert der Film ins Belehrende, etwa wenn die Beklemmung in Teheran mit Nabokovs „Lolita“ zu direkt gespiegelt wird. Doch solche symbolischen Überdeutlichkeiten stören kaum. Kraftvoller sind die intimen Momente des geheimen Frauenkreises, der sich im Wohnzimmer der Professorin versammelt. In dem poetisch gefilmten privaten Raum finden die Studentinnen gegen alle Verbote zu geistiger Selbstbestimmung: Das Lesen wird zur leisen Form des Widerstands.
Ein erschütternder Arztbesuch
Besonders Zar Amir Ebrahimi verleiht als Sanaz dem Film jene Zerbrechlichkeit, die den politischen Kontext greifbar macht. In einer erschütternden Sequenz eines Arztbesuchs offenbart sich die körperliche Gewalt, die sich hinter der Ideologie verbirgt. Damit kontrastieren die stillen Momente des Tanzens, Singens und Lachens – Augenblicke, in denen Freiheit kurz aufscheint, gerade weil sie so bedroht ist.
Riklis verzichtet bewusst auf dramatische Überhöhung. Sein Film bleibt dem moralischen Realismus verpflichtet: keine Übertreibung, keine Heldengesten, sondern klare Beobachtung einer Gesellschaft, die ihr eigenes Potential unterdrückt. Dass ein israelischer Regisseur dieses iranische Frauenleben in Italien inszeniert, wirkt in der Gegenwart doppelt bemerkenswert – gerade durch die Zusammenarbeit exilierter iranischer Künstlerinnen transportiert der Film eine Authentizität, die jede dramaturgische Unebenheit überstrahlt.
Nafisis Abschied aus dem Iran am Ende ist kein Triumph, aber auch keine pure Resignation. Riklis zeigt eine Frau, die weiß, dass Literatur allein die Welt nicht rettet – sie aber hilft, darin zu bestehen. „Lolita lesen in Teheran“ ist kein lauter Film, sondern ein notwendiger. Gerade seine Zartheit macht seinen Protest so eindrucksvoll.
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