Auf den ersten Blick mag es in „The Whale“ um das Trauma einer durch den Tod beendeten Liebesbeziehung gehen. Doch unterhalb dieser im Film lediglich lose angedeuteten Oberfläche verbirgt sich eine religiöse Narration, nämlich eine Passionsgeschichte. Indem sich der Protagonist, verkörpert vom dafür mit dem Oscar prämierten Brandon Fraser, in eine gigantische Fresssucht stürzt, nimmt er symbolisch die Sünden der Welt in sich auf. Gleiches gilt für seine Form des Zuhörens.
Sei es seine pubertäre Tochter, seine trunksüchtige Exfrau oder seine übergriffige Pflegerin – der Antiheld verzeiht alles, einschließlich einer glatten Fehldeutung der christlichen Glaubenssätze durch einen jungen Hausmissionar. Und so wird mit seinem an Jesu Schicksal angelehnten, erwartbaren Tod die große Welt letztlich im Kleinen erlöst. Unterstrichen wird dies übrigens auch durch die implizit mitlaufende biblische Sage um Jona im Wal. Eine Interpretation, die an den Haaren herbeigezogen ist? Wohl kaum. Denn in fast all seinen Werken setzt sich Darren Aronofsky mit der Metaphysik auseinander. In „The Fountain“ mal etwas mehr in fernöstlicher Weise, in „Noah“ und der Genesis-Adaption „Mother“ sehr forciert mit dem Christentum.
Emotionaler Überschlag in Form von Ekel
Sein Film trifft abseits der inhaltlichen Dimension aber noch eine weitaus umfassendere Aussage über das Kino an sich. Mit seiner Lichttechnik kann es zu einem Ort der Messe avancieren. Es stiftet Erkenntnis durch Erzählung und Montage. Und es vermag, Leiden als intensive Erfahrung zu vermitteln. Gerade die zahlreichen Filme über die Kreuzigung haben dies gezeigt. Am deutlichsten natürlich Mel Gibsons durch und durch erschütterndes Drama „Die Passion Christi“, ein Werk, dessen harte Gewaltdarstellungen sich unmittelbar auf das Empfinden der Zuschauer übertragen. Man fühlt mit. Man leidet mit. Passion geht über in Compassion – ein ganz bedeutender Grundgedanke für die Liebeslehre christlicher Barmherzigkeit!
Viele Regisseure haben in der Verarbeitung religiöser Motive und Botschaften das Kino als Kirche etabliert. Man denke nur in jüngerer Zeit noch an Lars von Trier und seinen Film „Antichrist“ oder Garth Davis‘ „Maria Magdalena“. Beide setzen auf bildstarke Drastik. Auch Aronofsky spielt in „The Whale“ mit einem emotionalen Überschlag. Überraschenderweise in Form des Ekels. Während die Pizza- und Zuckerorgien einerseits Abschreckung erzeugen, regen die Reaktionen Beobachtender im Film, die mal offen, mal nur camoufliert ihre Abneigung zum Ausdruck bringen, zum Nachdenken über den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten, Fremden und Außenseitern an.
War das nicht ebenso die Botschaft Christi? Und stand er nicht selbst zu Beginn für einen Outlaw und radikalen Andersdenkenden?
Solcherlei Fragen stellt sich also das Kino einer spirituellen Spätmoderne. Wie im Rahmen einer Séance führt es Menschen in einem anfangs dunklen Raum zusammen, vereint sie im Sehen, Hören und Fühlen. Seine Besonderheit: Ähnlich der Lektüre des Evangeliums muss man die spezifischen Codes des Films enträtseln. Er erweist sich somit als hermeneutische Praxis, deren Erprobung und Umsetzung zur Erkenntnis tiefer liegender Botschaften führt.
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