Das schon oftmals totgesagte Horror-Genre boomt gegenwärtig gewaltig: So stießen beim Streamingdienst Netflix unter anderem die auf den Romanen von R.L. Stine („Gänsehaut“) basierende Filmreihe „Fear Street“ sowie die Miniserie „Brand New Cherry Flavour“ im Sommer dieses Jahres auf sehr großes Zuschauerinteresse – und in den US-Kinos treibt gegenwärtig Horrorikone Michael Myers im mittlerweile 12. „Halloween“-Film „Halloween Kills“ erstmals seit Corona wieder in vollen Lichtspielhäusern sein Unwesen.
Doch während genannte Filme und Serien sich eher durch einen hohen Gewaltpegel und blutige Schockeffekte „auszeichnen“, gelingt es anderen Vertretern des Horror-Genres wiederum, nuancierter, intelligenter und auch offen gegenüber philosophischen und theologischen Fragestellungen aufzutreten.
Das Filmuniversum des Mike Flanagan
So ist beispielsweise US–Regisseur Mike Flanagan gegenwärtig für den Streamingdienst Netflix so etwas wie eine Allzweckwaffe, wenn es um das Erzählen anspruchsvoller Horrorgeschichten geht. Im Zentrum dieser Geschichten stehen dabei für den Regisseur der Stephen-King-Adaptionen „Das Spiel“ (2017) und „Doctor Sleeps Erwachen“ (2019) am liebsten verwunschene Häuser: Die von ihm verantworteten Miniserien „Spuk in Hill House“ (eine Verfilmung von Shirley Jacksons gleichnamigen Roman von 1959) sowie „Spuk in Bly Manor“ (eine lose Adaption des Henry-James-Klassikers „Die Drehung der Schraube“) sorgten 2018 sowie 2020 bei Kritik und Publikum gleichermaßen für Begeisterungsstürme, weil es Flanagan gelang, nicht ausschließlich auf Schockeffekte und Brutalität zu setzen, sondern stattdessen Charaktertiefe, existenzielle Fragestellungen und eine anspruchsvolle Inszenierung in den Fokus zu rücken. Sein Credo: Gepflegter Grusel anstatt hammerhartem Horror.
„Voller Schuldgefühle kehrt er nun zu seiner Familie und der Inselgemeinschaft zurück
und stellt sich als ehemaliger Messdiener die Frage,
wieso Gott dies alles hat geschehen lassen können“
Und diese Herangehensweise zahlen sich sowohl für Netflix als auch für Flanagan aus: denn neben der bereits für 2022 geplanten Adaption von Christopher Pikes Jugendbucherfolg „Die Mitternachtsfreunde“ soll er für Netflix nun sogar Edgar Allan Poes Klassiker „Der Untergang des Hauses Usher“ verfilmen – eine Ausstrahlung ist beim Streaminggiganten für 2023 geplant.
Flanagans jüngste Serienkreation für Netflix ist die Mitte September veröffentlichte Miniserie „Midnight Mass“: Die Handlung spielt auf der fiktiven US-amerikanischen Insel Crockett Island, deren Bewohner beinahe geschlossen römisch-katholisch sind. Sie beginnt mit der Rückkehr des Risikokapitalgebers Riley Flynn (Zach Gilford), der einst im betrunkenen Zustand eine junge Frau überfuhr und hierfür vier Jahre im Gefängnis verbringen musste. Voller Schuldgefühle kehrt er nun zu seiner Familie und der Inselgemeinschaft zurück und stellt sich als ehemaliger Messdiener die Frage, wieso Gott dies alles hat geschehen lassen können. Gleichzeitig mit Riley kommt ein junger Priester, der geheimnisvolle und charismatische Father Paul Hill (Hamish Linklater), auf Crockett Island an – und ist anscheinend in der Lage, biblisch anmutende Wunder zu vollbringen und hierdurch das Leben der Inselbewohner gehörig auf den Kopf zu stellen.
„Evil“: der inoffizielle Nachfolger von „Akte X“
Flanagan, der selbst laut eigenen Angaben eine glückliche katholische Kindheit verlebt hat, wählte für seine an sein großes erzählerisches Vorbild Stephen King erinnernde Geschichte, in der er seine Charaktere über so schwierige Themen wie Leiden, Schuld, Vergebung, Glaubensverlust und -fanatismus sprechen lässt, elegische Bilder, tiefsinnige Dialoge und spannende Wendungen. Die von ihm geschaffenen Figuren, die zum Teil autobiographische Züge tragen, berühren den Zuschauer – auch die obligatorischen Horrorelemente werden wohldosiert eingesetzt. Stephen King selbst lobte die Serie bereits in den höchsten Tönen.
Nicht von Mike Flanagan, sondern von Robert und Michelle King, den Machern der US-Anwaltsserien „The Good Wife“ und „The Good Fight“, stammt die Serie „Evil“. In der seit 2019 laufenden Serie, die in den USA zunächst bei CBS lief und später beim Streamingdienst Paramount+, in Deutschland hingegen bei Pro 7, Pro 7 Fun und Amazon Prime läuft, geht es um die forensische Psychologin Kristen Bouchard (Katja Herbers), die sich mit David Acosta („Luke Cage“-Darsteller Mike Colter), einem Journalisten und angehenden katholischen Priester, zusammentut. Die Beiden haben unterschiedliche Ansichten über das Wesen des Bösen und klären im Auftrag der Katholischen Kirche eine Reihe von teilweise übernatürlich anmutenden Fällen auf.
Skeptiker und Gläubige im Dialog
Ähnlich wie in der 1990er-Jahre-Serie „Akte X“ stellen sich die Glaubensskeptikerin Bouchard und der überzeugte Katholik Acosta immer wieder aufs Neue die Frage, ob ihr jeweiliger „Fall der Woche“ sich auf rationale oder doch eher übersinnliche Art und Weise lösen lässt – und ergänzen sich anhand ihrer unterschiedlichen Weltbilder. In den USA entwickelte sich die Serie, die von ihrer Tonart her an den Gruselklassiker „Das Omen“ erinnert und beide Hauptfiguren zum Teil äußerst anregend buchstäblich über Gott und die Welt diskutieren lässt, zu einem großen Erfolg und soll im kommenden Jahr bereits in die dritte Staffel gehen.
Doch auch die Mutter aller „religiösen“ Horrorfilme, „Der Exorzist“, der erst zwischen 2016 bis 2018 ein zwar gelungenes, aber kurzlebiges Serienupdate erhielt, soll bald ähnlich wie „Star Wars“, „Ghostbusters“ oder eben auch „Halloween“ als sogenanntes „Legacyquel“ wieder auf die Kinoleinwand zurückkehren. Die Macher der seit 2018 neu aufgelegten „Halloween“-Reihe werden sich hierfür verantwortlich zeigen und planen bereits eine ganze Trilogie.
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