Selten hat ein deutscher Untertitel so treffend einen Film zusammengefasst, wie es bei „Babylon – Rausch der Ekstase“ der Fall ist. Denn der hemmungslos dargestellte Wahnsinn und die permanente Reizüberflutung sind Methode bei diesem Film, der seit dem 19. Januar im Kino läuft.
Der preisgekrönte Regisseur und Drehbuchautor Damien Chazelle („La La Land“, „Whiplash“) hat mit seinem neuesten Epos einen hochglänzenden Hassbrief an Hollywood und gleichzeitig eine leidenschaftliche Liebeserklärung an das Kino verfasst: Der Film beginnt mit einem Elefanten und verhält sich folglich auch wie ein solcher in Hollywoods Porzellanladen.
Ein Bilderrausch aus Größenwahn und Sittenlosigkeit
„Babylon“ ist ein 189 Minuten langer epischer Bilderrausch, in atemlosem Tempo geschnitten: Ein überlanger Fiebertraum, der einen ungeschönten und kontroversen Blick hinter die Kulissen der Traumfabrik wirft und die faszinierende wie abgründige goldene Ära Hollywoods als einen Tanz um das goldene Kalb der Macht, der Dekadenz, des Ruhmes und des Reichtums beschreibt. Er erzählt vom Aufstieg und Fall einiger aufstrebender Stars und Filmsternchen, die, auf der Suche nach Glück und Erfolg, ihre Seelen an Hollywood verkaufen und sich dem Leben im Scheinwerferlicht verschrieben haben – ohne letztlich ein Happy End zu erleben.
Es ist die Geschichte von überschäumendem Ehrgeiz, Größenwahn, ausgelassener Eitelkeit, ausschweifender Verderbtheit im Sex- und Drogenrausch und ausgelebter Sittenlosigkeit, mit zahlreichen moralischen Fallhöhen. Eine Geschichte über die Schattenseiten der Filmindustrie, die an ihren Filmsets keine menschliche Demütigung ausspart, wo Sexismus und Rassismus zur Tagesordnung gehören und man selbst über Leichen geht, um Erfolg und Kinomagie zu generieren. Es wird jeder Versuchung nachgegangen und jeder erdenklichen Sucht gefrönt.
Der Film spielt in Los Angeles zwischen 1926 und 1952 und richtet in seiner Inszenierung sein Hauptaugenmerk auf die für viele Filmschaffende schwierige Übergangsphase Hollywoods vom Stumm- zum Tonfilm und später vom Schwarzweiß- zum Farbfilm. Als Erzähler fungiert ein mexikanischer Einwanderer, der filmbesessen ist und von einer Karriere im aufstrebenden US-amerikanischen Kino der 1920er-Jahre träumt. Auf seinem Weg durch die Glitzerwelt der Stars begegnen ihm auf drogengetränkten Partys und an den verschiedensten Drehorten viele Schauspielgrößen der damaligen Zeit sowie einflussreiche Filmemacher und zwielichtige Geschäftsleute.
Ein rauschhafter, bildgewaltiger Film
Der Großteil der in „Babylon“ auftretenden Hauptfiguren ist jedoch frei erfunden und lediglich von einigen legendären Hollywoodstars inspiriert, vor allem jenen, die sich selbst und ihre Karrieren durch ihren Lebenswandel zerstört haben. Als weitere Inspirationsquelle diente Chazelle wohl das 1959 erschienene Kultbuch „Hollywood Babylon“ von Filmemacher und Autor Kenneth Anger – eine berühmt-berüchtigte Klatschfibel, in der minutiös vermeintliche Exzesse im frühen Hollywood aufgelistet sind.
Aus dieser Mischung aus Fiktion und Realität ist nun ein rauschhafter, bildgewaltiger und von starker Jazzmusik angetriebener Film entstanden über Sex, Drugs und Hollywood, der zudem viele Referenzen an Filmklassiker und ein aufsehenerregendes Schauspielensemble auffährt: Neben den Hollywood-Größen Margot Robbie und Brad Pitt, die hier nach ihrem gemeinsamen Auftritt in Quentin Tarantinos „Once Upon a Time in … Hollywood“ erneut gemeinsam der Traumfabrik filmisch huldigen ohne sie zu glorifizieren, treten auch viele weitere Topstars auf: „Spiderman“ Tobey Maguire, Newcomer Diego Calva, „Red Hot Chili Peppers“- Bassist Flea, Olivia Wilde und Eric Roberts, um nur einige wenige zu nennen, die sich in spektakulären Kostümen und vor beeindruckenden Kulissen, in diesem für 80 Millionen Dollar äußerst opulent produzierten Spektakel in schauspielerischer Bestform präsentieren.
Der Film heißt zwar „Babylon“, erinnert den Zuschauer nach der orgiastischen zwanzigminütigen Eröffnungssequenz, aber eher an die biblischen Städte Sodom und Gomorra. Doch auch der Name Babylon ist Programm: Babylon, im heutigen Irak gelegen, ist vor einigen Tausend Jahren einmal die größte Stadt der Welt gewesen und beherbergte unter anderem einmal die Hängenden Gärten der Semiramis, eines der sieben Weltwunder der Antike. Im Alten Testament wird für das antike Babylon der hebräische Name „Babel“ verwendet, was nicht nur der Titel eines früheren Films mit Brad Pitt aus dem Jahr 2006 ist, sondern übersetzt so viel bedeutet wie „Verwirrung“.
Die biblischen Anspielungen sind zahlreich
Die berühmte Geschichte vom Turmbau zu Babel (Genesis 11) legt hierbei den Ursprung für die Redensart von der „babylonischen Sprachverwirrung“ – im Film „Babylon“ sorgt passend dazu der Siegeszug des Tonfilms für eine ähnliche Verwirrung bei jenen, die als Stummfilmstars auf einmal gezwungen werden, sich eine neue Identität zu verschaffen, weil eine gute Stimme nicht jedem Darsteller automatisch gegeben ist und das hörbare Sprechen vor der Kamera auch die Art des Schauspielens verändert.
Im Alten Testament wird Babylon als Ort des Unglaubens, der Unzucht, der Sklaverei und der Unterdrückung dargestellt – als ein Zentrum des Bösen. Diese Sichtweise findet sich auch im Neuen Testament wieder, wo Babylon als das irdische, antichristliche Machtzentrum im Gegensatz zur Stadt Gottes, dem himmlischen Jerusalem, beschrieben wird. In der von der Offenbarung des Johannes geprägten christlichen Symbolik gilt Babylon als gottesfeindliche Macht und Hort der Sünde und Dekadenz.
Von daher nannte auch Martin Luther das ihm verhasste Papsttum in Anlehnung an Offenbarung 17, 3–5 „die Hure Babylon“. Auch der Song „Rivers of Babylon“, der eine Interpretation des Psalms 137 ist und in der Version von Boney M. große Bekanntheit erlangte, knüpft an die jüdisch-christliche Symbolik an und beschreibt Babylon, sowohl als Ort des Exils, der Tränen, der Unterdrückung und der Gottesferne, als auch als Sinnbild eines sündigen, und verblendeten Lebenswandels. Eben jenes „babylonische Exil“ war ausschlaggebend für die Entwicklung eines neuen Identitätsgefühls für das jüdische Volk.
Alle leiden an Götterkomplexen oder inneren Dämonen
In der Vorstellung der antiken Babylonier waren ihre Götter anthropomorph. Somit konnte mit dem Wachsen oder dem Verlust von Macht die Verehrung eines Gottes steigen oder schwinden. Ähnlich funktioniert auch das alte Hollywood-System in Damien Chazelles „Babylon“-Film: Die Stars in „Babylon“ leiden allesamt an Götterkomplexen oder werden von inneren Dämonen getrieben, halten sich für unsterblich oder denken, sie könnten sich im Leben alles erlauben und dass andere Menschen nur dazu da sind, um ihnen zu Diensten zu stehen und sie anzuhimmeln.
Doch Hochmut kommt vor dem Fall, denn die Götterdämmerung kann in Hollywood schneller Einzug halten als man denkt – und die Stars und Möchtegernsternchen verblassen, sobald andere Stars auf einmal erscheinen und sie überstrahlen. Die Schönheit, Macht, Attraktivität und Ausstrahlungskraft der Stars hat wie alles im Leben eine Halbwertszeit und ein Ablaufdatum.
Neben den babylonischen Zuständen in Hollywood gibt es zudem auch einzelne Szenen, die auf weitere biblische Symbole und Geschichten verweisen, ob es das Spiel mit einer Schlange ist, die Arche Noah als Musical gezeigt wird oder die Erzählerfigur in einen Bunker steigt, der einem Abstieg in die Hölle gleicht: „Babylon“ hat alle Zutaten, die ein Epos braucht. Für Filme wie diesen wurde das Kino gemacht und es würde nicht verwundern, wenn er in einigen Jahren Kultstatus bei einigen Filmfans erreicht.
Vulgär, grotesk, obszön - und nicht für jeden geeignet
In den USA, wo er schon vor einigen Wochen angelaufen ist, konnte „Babylon“ zwar zahlreiche Filmpreisnominierungen. unter anderem für den Oscar und den Golden Globe, ergattern – jedoch bisher weder an der Kinokasse noch bei vielen Filmkritikern gut abschneiden. Kein Wunder, denn der Film polarisiert durch seine explizite Darstellung von Sex, Gewalt und Drogenkonsum. Zudem bekommt man massenweise verstörende Tierszenen zu sehen, ob mit Elefanten, Alligatoren, Schlangen oder Ratten.
Vielen dürfte der Film auch zu vulgär in seiner Sprache, zu grotesk in seiner Handlung und zu obszön und ordinär in seinen Bildern sein. Denn neben literweise Champagner und anderen alkoholischen Getränken fließen auch jede Menge Körperflüssigkeiten und das auf jede nur erdenkliche Art und Weise, was viele Zuschauer als zu geschmacklos ansehen dürften.
Kurzum: „Babylon" ist sperrig und nichts für zartbesaitete Seelen, aber definitiv eine Sichtung wert für alle Filmliebhaber, die sich entweder für Filmgeschichte interessieren und – beziehungsweise oder – schon einiges an Sehgewohnheiten mitbringen.
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