Ein Telefonanruf bei der Polizei eröffnet die sechsteilige dänische Netflix-Miniserie „Das Reservat“: Eine junge Frau bittet auf Englisch um Hilfe. Dann verstummt sie. Mit der Miniserie gelingt der dänischen Serienschöpferin Ingeborg Topsøe ein packendes und gesellschaftlich relevantes Krimidrama. Vordergründig geht es um das Verschwinden eines philippinischen Au-pair-Mädchens, doch die Serie entlarvt Schritt für Schritt die moralischen Leerstellen einer vermeintlich aufgeklärten Elitegesellschaft – ganz im Stil der neuen sozialkritischen Noir-Welle, wie sie etwa durch die Serie „Adolescence“ angestoßen wurde.
Die Geschichte beginnt in einem Wohlstandsvorort nördlich von Kopenhagen, worauf der Originaltitel „Reservatet“ anspielt: Perfekt eingerichtete Wohnzimmer, gedeckte Farben, wohlbehütete Kinder. Hier lebt Cecilie (Marie Bach Hansen) mit Ehemann Mike (Simon Sears), einem gut verdienenden Anwalt. Nebenan residieren Rasmus (Lars Ranthe) und Katarina (Danica Ćurčić), er Industrieller, sie mondäne Gastgeberin mit Ambitionen. Alles scheint auf den ersten Blick geordnet. Doch die Fassade beginnt zu bröckeln, als Ruby (Donna Levkovski), das junge philippinische Au-pair von Rasmus und Katarina, spurlos verschwindet – kurz nachdem sie Cecilie ihre Ängste und Unzufriedenheit anvertraut hat.
Kamerafahrten im Stil eines Horrorfilms
Was folgt, ist weit mehr als eine klassische Krimi-Geschichte. Es handelt sich um eine fein beobachtete Dekonstruktion der sozialen Machtverhältnisse, erzählt aus der Perspektive einer Frau, die allmählich erkennt, dass sie Teil eines ungerechten Systems ist. Cecilie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, unterstützt von ihrer Au-pair-Kraft Angel (Excel Busano), die eng mit Ruby befreundet war. Gemeinsam mit der engagierten Polizistin Aicha (Sara Fanta Traore) dringen sie tiefer in ein Netz aus Schweigen, Ausbeutung und verdrängter Schuld vor. Dabei werden nicht nur die fragwürdigen Verhaltensmuster ihrer Nachbarn aufgedeckt – auch Cecilie selbst muss sich unbequemen Wahrheiten über ihre Rolle als Arbeitgeberin und Ehefrau stellen.
Zur gelungenen visuellen Umsetzung gehört eine Kameraführung, die mit Zeitlupen und Kamerafahrten an den Stil eines Horrorfilms erinnert. Auch das Produktionsdesign wurde sorgfältig gestaltet – dazu zählt nicht nur der gepflegte Reichtum in den Häusern der „reservierten“ Gesellschaft, sondern beispielsweise auch die Paramente des katholischen Priesters, der in der Serie eine kleine, doch bedeutende Rolle spielt.
„Das Reservat“ behandelt ein oft marginalisiertes Thema: die Lebenswirklichkeit von Migrantinnen, die als Au-pairs unter prekären Bedingungen in europäischen Haushalten arbeiten. Ohne zu moralisieren, gelingt der Serie eine eindrucksvolle Balance aus Spannung und Sozialkritik. Serienschöpferin Ingeborg Topsøe und Regisseur Per Fly verzichten bewusst auf drastische Bilder, etwa in einer Leichenschauhausszene, in der die Kamera sich vom Anblick des toten Körpers abwendet.
Verrohung der digital sozialisierten Jugend
Die Besetzung überzeugt auf ganzer Linie. Marie Bach Hansen verkörpert eine glaubwürdig zwiegespaltene Protagonistin, die sich aus der Selbstgerechtigkeit der Oberschicht befreien will, ohne sich sofort zur Heldin aufzuschwingen. Herausragend ist Danica Ćurčić als Katarina: egozentrisch, kühl und verletzlich – eine Figur, die das moralische Vakuum einer Generation repräsentiert, die alles hat und dennoch nichts versteht.
Neben dem sozialen Abgrund zwischen Reich und Arm, Dänen und Migranten, beleuchtet „Das Reservat“ auch die zunehmende Verrohung einer digital sozialisierten Jugend – auch hier sind die Parallelen zur erwähnten Serie „Adolescence“ allzu deutlich. Die pubertierenden Söhne der beiden Familien teilen gewaltverherrlichende Videos und pornografische Inhalte in Chatgruppen, deren Existenz die Erwachsenen nicht einmal erahnen. Das Unbehagen dieser Nebenhandlung bleibt lange spürbar, da es sich glaubwürdig in die Hauptthemen der Serie einfügt.
Wie jede gute Krimigeschichte lebt auch „Das Reservat“ von seinen Leerstellen. Nicht alle Fragen werden beantwortet, nicht jede Schuld offenbart. Gerade diese narrative Zurückhaltung macht die Serie glaubwürdig, denn sie zwingt zur Selbstreflexion.
Was bleibt, ist ein düsterer, aber notwendiger Blick auf eine Gesellschaftsschicht, die sich gern für tolerant hält, aber die systemische Ungleichheit ignoriert, auf der ihr Wohlstand ruht. „Das Reservat“ zeigt: Hinter der perfekten Fassade liegt nicht immer das Verbrechen, aber fast immer die Komplizenschaft.
„Das Reservat“ („Reservatet“), Dänemark 2025. 6 Folgen à ca. 33–42 Minuten. Stoffentwicklung: Ingeborg Topsøe. Regie: Per Fly. Auf Netflix.
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