Der junge Mann, der Psychotherapeut Alan Strauss (Steve Carrell) erstmals aufsucht, weigert sich, bei der Sitzung die Sonnenbrille abzunehmen. Auch wenn Dr. Strauss genug mit den eigenen Problemen zu tun hat – er muss noch den Tod seiner Frau verarbeiten, sein Sohn entfernt sich immer mehr von ihm –, entgeht ihm nicht, dass Gene (Domhnall Gleeson) ganz andere psychische Probleme hat, für deren Behandlung eine erste Therapiesitzung nur ein Anfang sein kann.
Eine beinahe kammerspielartige Inszenierung
Gene heißt in Wirklichkeit Sam Fortner und leidet unter einem Zwang zum Töten. Dies erfährt der Psychotherapeut jedoch erst, als die ganze Situation schon eine unschöne Wendung genommen hat. Denn der junge Mann entführt Alan Strauss und hält ihn gefangen in seinem mitten im Wald stehenden Haus. Dem angeketteten Therapeut bleibt nichts anderes übrig, als sich auf ein lebensgefährliches Spiel einzulassen: Sam offenbart sich als Serienkiller, der sich von Dr. Strauss eine Therapie verspricht, um sich vom zwanghaften Morden zu befreien. Nur dass sich die ganze Szenerie nicht gerade als für eine Vertrauensbasis förderlich ausnimmt.
Dazu kommt es, dass sich der junge Patient ziemlich verschlossen zeigt und sich weigert, über sich und seine Familie zu sprechen. Für den Psychotherapeuten stellt sich die doppelte Frage: Kann er den jungen Mann unter diesen Umständen therapieren? Und vor allem auch: Kann er sich überhaupt aus seiner misslichen Lage befreien?
Die Serienmacher Joel Fields und Joseph Weisberg wurden durch die Disney FX-Serie „The Americans“ über ein Spionen-Ehepaar in der Zeit des Kalten Krieges weltbekannt. Die Serie, die es zwischen 2013 und 2018 auf sechs Staffeln brachte, gehört inzwischen zu den Klassikern des Genres. Auch wenn sie hier das Genre gewechselt haben, kommt ihre bei „The Americans“ gezeigte Meisterschaft im Spannungsaufbau zum Vorschein.
Denn Fields und Weisbarg sowie die Regisseure Chris Long, Gwyneth Horder-Payton und Kevin Bray schaffen es, in einer beinahe kammerspielartigen Inszenierung die Spannung zu halten. Dies geschieht insbesondere auch durch die gelungene Figurenzeichnung, die sich bei Alan auf dessen Familien- und Religionsverhältnisse, bei Sam auf dessen Lebensdrama konzentriert. Dabei erweist sich als besonders relevant das Verhältnis zwischen Sam und dessen Mutter Candance Fortner (Linda Emond) beziehungsweise zwischen Alan und dessen Sohn Ezra (Andrew Leeds).
Kurze Folgen aber mit Zeitdruck
Zur besseren Charakterisierung der Hauptfigur, die sich ja die meiste Zeit alleine in dem kellerartigen Zimmer aufhält, greifen die Serienmacher auf einen erzählerischen Kniff zurück: Der Psychologe führt eine imaginäre Therapie bei seinem Mentor Charlie Addison (David Alan Grier) durch. Damit kann er nicht nur besser mit seiner Situation umgehen. Außerdem hilft ihm die Therapie, seine emotionalen Wunden zu heilen.
Angesichts des vereinfachten Settings – die Serie ist über weiter Strecken ein Zwei-Personen-Stück – kommt es in besonderem Maße auf die zwei Hauptdarsteller an. Steve Carell wird gemeinhin mit komödiantischen Rollen in Verbindung gebracht, auch wenn er etwa in „Foxcatcher“ (2014), „Vice: Der zweite Mann“ (2018) oder in der Serie „The Morning Show“ (2019–2021) sein Können im ernsten Fach unter Beweis gestellt hat. In „The Patient“ spielt er womöglich die beste Rolle seines schon langen Darsteller-Lebens.
Domhnall Gleeson, der sich bereits mit eher Nebenrollen – beispielsweise in „Alles eine Frage der Zeit“ (2013), „Ex Machina“ (2014) und „Frank“ (2014) – einen Namen gemacht hatte, geht in der Rolle des soziopathischen Mörders förmlich auf.
Interessant ist darüber hinaus die Dauer der jeweiligen Folgen von je einer halben Stunde, die eher zum komödiantischen Genre passt. Als Thriller korrespondiert diese kürzere Dauer mit dem Zeitdruck, der sich von Folge zu Folge erhöht, und der zusammen mit immer neueren Wendungen die Spannung hochhält.
Die Serie „The Patient“ erschöpft sich jedoch nicht in thrillermäßiger Spannung. Dazu kommen tiefgründige Dialoge und eine durch Selbstreflexion verursachte, ebenso tiefgehende Charakterentwicklung insbesondere des Psychotherapeuten.
Die auf den ersten Blick einfache, unprätentiöse Serie zeigt, dass ein intelligent ausgearbeitetes Drehbuch mit zahlreichen Wendungen und überraschenden, aber den Zuschauer ansprechenden Charakteren nicht nur einen langen Spannungsbogen halten kann, sondern auch, dass im seriellen Erzählen unerwartete und dadurch auch noch fesselnde Variationsmöglichkeiten stecken.
„The Patient“, USA 2022. Serienentwickler: Joel Fields, Joseph Weisberg. 10 Folgen à 22 bis 48 Minuten. Auf Disney TV+
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