Bereits kurz nach der Veröffentlichung des Remakes von „Mord im Orient Express“ (2017) verkündete Regisseur und Hauptdarsteller Kenneth Branagh sein großes Interesse daran, auch andere Krimis von Agatha Christie fürs Kino zu adaptieren und so ein eigenes Agatha-Christie-Filmuniversum zu erschaffen.
Im Jahr 2022 folgte die Neuverfilmung des Klassikers „Tod auf dem Nil“ und nun erscheint unter dem Titel „A Haunting in Venice“ (Spuk in Venedig) bereits die dritte Romanverfilmung von Branagh, der neben der Regie, erneut die Rolle des ermittelnden Detektivs Hercule Poirot übernommen hat. Der Film beruht diesmal auf dem Christie-Roman „Hallowe‘en Party“ (Die Schneewittchen-Party). Dieser gehört zu einem der weniger bekannten Romane der Krimiautorin und wurde bisher nur einmal 2011 fürs britische Fernsehen mit David Suchet als Detektiv Poirot verfilmt.
Ein großer Genre- und Tonwechsel
Doch das ist nicht der einzige Unterschied zu Branaghs vorherigen Filmadaptionen. Im Vergleich zu den beiden Vorgängerfilmen nimmt der Regisseur in seiner neuesten Franchise-Verfilmung einen großen Genre- und Tonwechsel vor. Offensichtlich nahm er sich die Kritik an den ersten beiden Filmen zu Herzen und wollte diesmal einiges anders machen. Das fängt schon damit an, dass Branagh sich diesmal weit von der Romanvorlage entfernt, indem er das Setting von einer englischen Grafschaft in das geheimnisvolle und düster-unheimliche Nachkriegs-Venedig verlegt. Dabei dringt er auch in okkult-mystische Bereiche vor, indem er die Handlung am Vorabend von Allerheiligen, also an Halloween spielen lässt, was seinem Film einen gruseligen und morbiden Anstrich verleiht.
Zudem scheint diesmal auch alles zurück zu den Wurzeln zu gehen und eine Nummer kleiner geworden zu sein. In den Vorgängerfilmen, besonders dem letzten, wurden die Filmkulissen mit Hilfe von Greenscreen-Technik überwiegend digital am Computer erzeugt, und das sah man den fertigen Filmen auch deutlich an. Das Ergebnis war eine jeweils zu Recht von vielen kritisierte plastische Künstlichkeit der Naturkulissen, die einen immer wieder aus der Handlung herausriss.
Die dritte Adaption wurde deswegen größtenteils an Originalschauplätzen, wie dem Markusplatz oder dem Canale Grande in Venedig, gedreht. Und dieser Umstand macht beim Zuschauen einen gewaltigen Unterschied aus, denn die neue Authentizität, die stark von physischen Räumlichkeiten lebt, trägt mit bei zur schaurigen Gesamt-Atmosphäre des Films. Damit fällt es dem Zuschauer deutlich einfacher, sich von der stimmungsvollen Geschichte in ihren Bann ziehen zu lassen und der Handlung zu folgen.
Der perfekte Tatort für eine wohlige Geistergeschichte
Man bekommt zwar am Anfang und am Ende natürlich die wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten von Venedig zu sehen, aber der Großteil des Films spielt eher in den beengten Räumen und Gängen eines alten venezianischen Palastes, in den Hercule Poirot sich und alle Verdächtigen einschließt. Die Enge der Räume verdeutlicht immer wieder die Klemme, in der die Akteure stecken und macht das Setting intimer. Von großen Glocken, mittelalterlichen Kirchen, zahlreichen strengen Nonnen im Habit und alten Kruzifixen, über wehenden Vorhängen, dunklen Kellern, laut zuschlagenden Türen, flackernden Lichtern, einem übersinnlichen Medium, Jumpscares (Schreckmomente), unheimlichen Stimmen, Gesängen und Geräuschen wird als effekthascherisches Stilmittel alles aufgefahren, um Spannung und eine gruselige Geisterhaus-Atmosphäre heraufzubeschwören. Das alte Venedig, mit seinen unzähligen alten Häusern, Gassen, Brücken und düsteren Ecken, ist der perfekte Tatort für eine wohlige Geistergeschichte, der man als Zuschauer gerne folgt.
Eine Nummer kleiner geht es diesmal aber nicht nur bei der Ausstattung des Films zu, sondern auch beim Schauspielerensemble. Diesmal bleibt, im Vergleich zu den Vorgängern, das riesige Staraufgebot aus. Denn außer Kenneth Branagh selbst, der diesjährigen Oscar-Gewinnerin Michelle Yeoh („Everything Everywhere All at Once“) und dem „Fifty Shades Of Grey“-Star Jamie Dornan, bleibt das Prominenten-Schaulaufen überschaubar und lenkt damit nicht mehr von den Charakteren ab, beziehungsweise bereitet diese Cast-Entscheidung Kenneth Branagh stärker als je zuvor die Bühne für eine One-Man-Show. Dornan stellt hier übrigens, nach Branaghs autobiografischem Film „Belfast“ von 2022, erneut den Vater von Kinderdarsteller Jude Hill dar.
Der stark veränderte Handlungsverlauf von „A Haunting in Venice“ bietet ein Novum im Vergleich zu den ersten beiden eher werkgetreuen Verfilmungen von Branagh. Nach dem zweiten Weltkrieg setzt sich der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot im Jahr 1947 in der italienischen Lagunen-Stadt Venedig zur Ruhe. Er hat genug von den vielen gelösten Mordfällen und lehnt mit Hilfe seines Bodyguards Vitale (Riccardo Scamarcio) jede weitere detektivische Arbeit ab. Zumindest solange, bis ihn eines Tages seine alte Autorin-Freundin Ariadne (Tina Fey) aufsucht und dazu überredet, an Halloween mit einigen Gästen an einer okkulten Geisterbeschwörung in einem alten Palast teilzunehmen. Dort sollen die Seelen ermordeter Kinder spuken und sich vor kurzem ein Suizid ereignet haben.
Lässt sich Poirot von der Realität des Übernatürlichen überzeugen?
Ariadne hofft, dass Poirot sich endlich von der Realität des Übernatürlichen überzeugen lässt. Er glaubt natürlich nicht an solch einen Hokuspokus und will der Wahrheit hinter der Spukveranstaltung auf die Schliche kommen. Die spirituelle Séance wird geleitet von dem Medium Joyce (Michelle Yeoh), die vorgibt Kontakt zur Geisterwelt aufnehmen und mit Verstorbenen sprechen zu können.
Natürlich möchte der Realist Poirot das Medium nur allzu gerne öffentlich als Schwindlerin entlarven und macht dem anfänglichen Spuk tatsächlich schnell ein Ende. Als jedoch plötzlich jemand nach der Geistersitzung ermordet wird und der Detektiv selbst auf einmal von merkwürdigen Stimmen und Visionen geplagt wird, kommt er ins Nachdenken und hinterfragt seinen atheistischen Rationalismus, der ihm besagt, dass es keine Geister und keinen Gott geben kann. Was aber geht dann in diesem scheinbar verfluchten Palast vor sich? Befindet sich wirklich ein Mörder im Kreis der Verdächtigen oder geht es hier am Ende doch mit übernatürlichen Dingen zu?
Poirot kann es sich zunächst selbst nicht erklären und so steckt er widerwillig plötzlich doch wieder mitten in einem neuen, unheimlichen Fall, den es zu lösen gilt. Er beginnt die Gäste zu verhören. In gewohnter Manier, nach dem Whodunit-Prinzip (Wer war‘s?), werden dabei restlos alle Personen unter die Lupe genommen und Verdächtigte ausgeschlossen. Wie üblich im Krimi-Genre kommen dabei natürlich weitere Geheimnisse auf den Tisch, die zeigen, dass jeder der Gäste den andern Gästen aus bestimmten Gründen wichtige Informationen über sich vorenthält und über ein Tatmotiv verfügt. Verzweiflungstaten folgen, Ausreden werden gesucht, toxische Beziehungen aufgedeckt und alle möglichen Tricks angewendet um Poirot hinters Licht zu führen, bis er schließlich in einem Schlagabtausch alle Lügen entlarven und die Täter, beziehungsweise den Täter oder die Täterin im großen Finale überführen kann. Mehr sei hier über die Auflösung natürlich nicht verraten.
Die emotionale Tragweite der Geschichte erfasst
Diesmal ist es Kenneth Branagh gelungen, die emotionale Tragweite einer Agatha-Christie-Geschichte zu erfassen. Ein jeder Mensch ist oft ambivalent in seinem sozialen Verhaltensmuster. Ein jeder trägt Lasten aus seiner Vergangenheit mit sich, hat tiefsitzende Ängste, kämpft mit inneren Dämonen und tut sich schwer, mit eigenem Versagen und mit Schuld umzugehen, in die man sich manchmal bewusst verstrickt und manchmal auch durch besondere Umstände hineingeworfen wird.
Poirot muss in einer Szene des Films, als er gefragt wird, ob er an Gott glaubt, gestehen, dass er seinen Glauben an Gott, durch die beiden Weltkriege und zu viele schmerzhafte Erlebnisse und Verluste in seinem Leben, verloren hat. Er glaubt auch nicht an ein Leben nach dem Tod, folglich auch nicht an arme Seelen oder Geister. Er glaubt vielmehr daran, dass sich jedes Mysterium im Leben rational erklären lässt und alles eine Ursache und Wirkung hat.
Dennoch muss er sich auch in einer wichtigen Szene eingestehen, dass es zwischen seinem Detektivberuf, indem er oft mit Morden zu tun hat, und dem Medium, das vorgibt, mit Toten im Kontakt zu stehen, eine große Gemeinsamkeit gibt: Beide haben von Berufswegen mit Toten zu tun, zu beiden sprechen die Verstorbenen auf je andere Art und Weise, damit sie ihnen helfen Erlösung zu finden, beziehungsweise ihnen Gerechtigkeit widerfahren kann.
Auch Poirot ist eine Art Medium, mit dem Tote durch die Umstände ihres Todes und die Beweise und Spuren, die er findet, sprechen. Als er zum Schluss gefragt wird, ob er jetzt an Geister glaubt, erwidert Poirot: „Wir können uns nicht vor unseren Geistern verstecken. Irgendwann holen sie uns ein, ob sie lebendig sind oder nicht. Wir müssen lernen, uns ihnen zu stellen, um unser Leben wirklich leben zu können!“ Das ist ein starker Satz in einem wahrhaft geistreichen Film über Glaube, Unglaube und Aberglaube.
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