Mit einer Überraschung bei der Preisverleihung im offiziellen Wettbewerb endete am Samstagabend die 73. Berlinale. Denn die siebenköpfige internationale Jury – die aus den Schauspielerinnen Kristen Stewart und Golshifteh Farahani, den Regisseuren Valeska Grisebach, Carla Simón, Radu Jude und Johnnie To sowie dem „Casting Director“ Francine Maisler bestand – verlieh den Hauptpreis an den einzigen Dokumentarfilm im Wettbewerb: Der „Goldene Bär für den Besten Film“ ging an Nicolas Philiberts „Sur l?damant“, der von einer schwimmenden Tagesklinik für Psychiatrie-Patienten in Paris handelt. Sie befindet sich auf dem gleichnamigen ehemaligen Frachtschiff, das fest vertäut am Ufer der Seine steht.
Letztendlich konventionelle Handlungen
Nicholas Philibert, der sich in seinen Filmen immer wieder mit psychiatrischer Behandlung beschäftigte, nimmt eine beobachtende Stellung ein, die aber hin und wieder konterkariert wird, etwa wenn eine Patientin die Filmemacher über deren Ausrüstung befragt. Der Film lebt von der Beobachtung und den Gesprächen mit einzelnen Patienten, ohne dass er aber auf die Funktionsweise der Adamant eingeht. Die Kamera bleibt nahe an den Protagonisten und lässt den Zuschauer das Schiff selbst als Ganzes kaum erleben. „Sur l'Adamant“ soll der Auftakt zu einer Trilogie über neue Wege in der Psychiatrie werden. Ein vom Thema her interessanter Film, der jedoch an Philiberts großen Erfolg „Sein und Haben“ (2002) atmosphärisch nicht heranreicht.
Vielsagend für den diesjährigen, aus 19 sehr unterschiedlichen Filmen bestehenden Wettbewerb ist indes, dass keiner von ihnen für die Eröffnung der 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin ausgewählt wurde. Für eine solche Eröffnungsgala spielen offensichtlich Stars eine entscheidende Rolle, die in den Wettbewerbsfilmen kaum zu finden waren – vielleicht mit Ausnahme von Jesse Eisenberg und Adrien Brody in „Manodrome“ (John Trengove). Nur, dass sich „Manodrome“ wie auch etliche im diesjährigen Wettbewerb als so niederschmetternd herausstellt, dass sich die Verantwortlichen lieber für eine zwar schräge, aber doch optimistische Komödie entschieden: „She Came to Me“ gehörte zur Reihe „Berlinale Special“, hatte aber den weiteren Vorteil, dass Starts wie Anne Hathaway, Peter Dinklage und Marisa Tomei über den „Roten Teppich“ laufen konnten. Dinklage spielt einen Opern-Komponisten, der unter einer Blockade leidet. Dass sich die von der bekannten Anne Hathaway („Der Teufel trägt Prada“, „Les Miserables“) gespielte Therapeutin auf ihre katholische Erziehung besinnt und ins Kloster zieht, soll für einen „exzentrischen Charakter“ stehen.
Im großen und ganzen zeichnete die Jury Filme aus, die eher eine Handlung im konventionellen Sinne haben: So erging der zweite Preis, der „Silberne Bär Großer Preis der Jury“ an Christian Petzolds „Roter Himmel“, der von jungen Menschen in einem abgelegenen Haus im Wald nahe der Ostsee handelt. Hier möchte Leon (Thomas Schubert) seinen Roman beenden, Felix (Langston Uibel) seine Mappe für ein Kunstprojekt erarbeiten. Als die beiden Freunde im Haus ankommen, hat sich Nadja (Paula Beer) bereits dort ausgebreitet – sie hat einen Ferienjob in der nahegelegenen Touristenstadt. Vierter im Bunde ist Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs), der Nadjas Geliebter zu sein scheint, dann aber mit Felix ein Paar wird.
Eine Achtjährige spielt die Geschlechtervielfalt
„Roter Himmel“ erweist sich als der von der Stimmung her vielleicht leichteste Film von Christian Petzold, der die formale Strenge seiner früheren Filme von „Gespenster“ (2005) über „Barbara“ (2012) bis „Transit“ (2018) oder „Undine“ (2020) abgelegt hat – ein Vergleich mit dem im Setting ähnlichen „Jerichow“ (2008) lässt seinen jetzigen Film „Roter Himmel“ über weite Strecken als eine Sommerkomödie erscheinen, in dem sich auch der Humor immer wieder Bahn bricht, etwa in der Besprechung zwischen Leon und seinem Verleger (Matthias Brandt). Erst gegen Ende spielt sich zum durch einen Waldbrand rot verfärben Himmel noch das eine oder andere Drama ab. Zeichnet Christian Petzold in seinem Film Charaktere, mit denen trotz ihrer Unzulänglichkeiten die Zuschauer Empathie empfinden können, kann dies kaum vom „dritten Preis“, dem „Silbernen Bären Preis der Jury“ für den portugiesischen Beitrag „Mal viver“ (João Canijo) behauptet werden, der von drei Generationen – Großmutter, Mutter, Tochter – erzählt. Mangels eigentlicher Geschichte bleibt die Figurenzeichnung auf der Strecke, „Mal viver“ weit hinter einem angeblich kleineren Film aus der Nebenreihe „Perspektive Deutsches Kino“: Tanja Egens „Geranien“ (DT vom 16. Februar) besitzt im Gegensatz zu Canijos Film ein solides Drehbuch.
Solider in Drehbuch und Inszenierung nehmen sich allerdings andere Beiträge aus, so etwa „Past Lives“, das Spielfilmdebüt der aus Korea stammenden, in New York lebenden Theaterautorin Celine Song oder auch „The Shadowless Tower“ („Bai Ta Zhi Guang“) des chinesischen Regisseurs Zhang Lu. „Past Lives“ erzählt auf drei Zeitebenen von einer Kindheitsliebe, die ein jähes Ende findet, als die zwölfjährige Na Young mit ihrer Familie nach Kanada auswandert und sich von ihrem Mitschüler Hae Sung trennen muss. Zwölf Jahre später entdeckt sie, die sich nun Nora nennt und in New York lebt, dass Hae Sung im Internet nach ihr sucht. Obwohl sich die beiden wieder sofort verstehen, bleibt ein Wiedersehen aus, zumal Nora den Kollegen Arthur kennen- und lieben lernt. Erst weitere zwölf Jahre später kommt es zu einem Wiedersehen in New York, das allerdings ohne Hollywood-Happy-End bleibt. Dennoch berührt der auf eine außergewöhnliche Art romantische Film den Zuschauer insbesondere wegen seiner kleinen Geste zutiefst.
Der chinesische Beitrag „The Shadowless Tower“ erzählt in zweieinhalb Stunden vom geschiedenen Restaurantkritiker Gu Wentong, der sich der um einiges jüngeren Fotografin Ouyang Wenhui annähert. Doch auch dieser Film ist keine typische Hollywood-Liebesgeschichte. Er handelt vielmehr von komplizierten Familienbeziehungen und insbesondere von der Abwesenheit des Vaters: Gus kleine Tochter lebt seit der Scheidung bei der kinderlosen Schwester ihres Vaters und deren Ehemann. Offen bleibt etwa auch, ob Ouyang Wenhui im älteren Gu Wentong nicht eher einen Vaterersatz sucht, da sie im Waisenhaus aufgewachsen ist. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch die Suche des Restaurantkritikers nach seinem Vater, den er seit 40 Jahren nicht mehr gesehen hat.
Unausgereiftes Drehbuch aber ästhetischer Ehrgeiz
Bei den komplexen Drehbüchern samt gelungener Inszenierung von „Past Lives“ und „The Shadowless Tower“ fragt es sich, warum die Preise der internationalen Jury „für das beste Drehbuch“ an Angela Schanelecs „Music“ – ein vor allem elliptisch erzählter Film, der vom Ödipus-Mythos inspiriert sein soll, was sich jedoch beim Sichten ohne weitere Informationen kaum erschließt – beziehungsweise „für die beste Regie“ an Philippe Garrels „Le grand chariot“ – die allzu vorhersehbare Geschichte einer Familie, die ein Marionettentheater betreibt – und eben nicht an den koreanischen oder den chinesischen Beitrag verliehen wurden?
Die „beste schauspielerische Leistung“ in einer Haupt- beziehungsweise Nebenrolle erhielten Schauspielerinnen, die „zwischen den Geschlechtern“ stehen: Die achtjährige Sofia Otero spielt in „20 000 especies de abejas“ einen Jungen mit Geschlechterdysforie, der sich also für ein Mädchen hält; in „Bis ans Ende der Nacht“ verkörpert Thea Ehre eine Transfrau.
Auf etliche der Wettbewerbsfilme, die leer ausgingen, passt eher die Bezeichnung sperrig. Denn sie tragen einen ästhetischen Ehrgeiz wie eine Monstranz vor sich her, so dass sie einfach pedantisch wirken, etwa die australische dystopische Vision „The Survival of Kindness“ (Rolf de Heer). Das unausgereifte Drehbuch steht manchem Film aus dem diesjährigen Berlinale-Wettbewerb im Wege – dies gilt sowohl für den eingangs erwähnten „Manodrome“ als auch etwa für Giacomo Abbruzzeses „Disco Boy“, der in der ersten Hälfte konsequent die Geschichte eines von Franz Rogowski dargestellten jungen Weißrussen erzählt, der sich zur Fremdenlegion meldet und zu einem Einsatzkommando nach Nigeria geschickt wird. Leider verliert der Film in der zweiten Hälfte seinen roten Faden. Dennoch: Die Kameraarbeit von Hélène Louvart war schon besonders – sie erhielt den „Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung“.
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