Russland wurde 1812-1815 noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, doch kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleon angesehen. In der westlichen Öffentlichkeit galt es nun beinahe als Axiom, dass Russland, ähnlich wie Napoleon, die Errichtung einer Universalmonarchie anstrebe. Die Nachgiebigkeit vieler europäischer Regierungen gegenüber Petersburg rief bei den Gegnern der bestehenden europäischen Ordnung maßlose Empörung hervor. Nur die europäische Revolution war ih-rer Ansicht der russischen Übermacht gewachsen. Friedrich Engels schrieb 1853 in diesem Zusammenhang: „Seit (der Französischen Revolution von) 1789 gab es… bloß zwei Mächte auf dem europäischen Kontinent: Russland mit seinem Absolutismus auf der einen Seite, die Revolution auf der anderen.“
Ähnlich dachten manche Verteidiger der russischen Selbstherrschaft, etwa der Dichter Fjodor Tjuttschew. Kurz nach dem Ausbruch der Revolution von 1848 schrieb er: „Es gibt in Europa nur zwei Mächte – Russland und die Revolution… Das Leben der einen ist der Tod der anderen. Vom Ausgang des Kampfes, der zwischen ihnen angehoben hat, hängt für Jahrhunderte die politische und die religiöse Zukunft der Menschheit ab.“ In der Tat gehörte der Kampf gegen Russland als das „stärkste Bollwerk der Gegenrevolution“ zu den wichtigsten außenpolitischen Forderungen der 1848 ausgebrochenen Revolution. Im Frühjahr 1848 befand sie sich in einem Siegestaumel.
Das Jahr des Triumphs der nationalen Egoismen
Die beinahe kampflose Kapitulation der mächtigsten Monarchen des Kontinents berauschte die Gegner der alten Ordnung. Warum sollten sie ihren Siegeszug nicht weiter nach Osten fortsetzen? Die Zeit der vorsichtigen, auf die Bewahrung des Status quo ausgerichteten Politik der europäischen Kabinette schien zu Ende, das Zeitalter der Dynamik war angebrochen. Das auf Erstarrung und Bewegungslosigkeit angelegte Regime des Zaren Nikolaus I. mutete angesichts dieser neuen Entwicklung besonders anachronistisch an. Die territoriale Umgestaltung Europas – eines der wichtigsten Ziele der Revolution – wäre ohne die entscheidende Schwächung der russischen Position in Ostmitteleuropa kaum zu erreichen gewesen. Abgesehen davon galt der Sieg der Revolution ohne die Bezwingung Russlands nicht als endgültig gesichert. Der Schicksalskampf zwischen der Revolution und der letzten Bastion des Ancien Régime schien nun unausweichlich.
Dennoch kam es zur allgemeinen Überraschung nicht zu einem solchen Kampf. Um das Zarenreich in seiner Funktion als der wichtigsten Stütze der europäischen alten Ordnung erfolgreich zu bekämpfen, hätte die Revolution entsprechende universale Prinzipien und eine länderübergreifende Strategie entwickeln müssen. Dies ist allerdings kaum geschehen. Das Jahr 1848 wird in der historischen Literatur übereinstimmend als das Jahr des Triumphs der nationalen Egoismen bewertet. Besonders deutlich spiegelte sich dies am Schicksal Polens wider. Seit etwa 1830 (seit dem polnischen Novemberaufstand) stellte die Solidarität mit dem unterdrückten Polen eine Art Prüfstein für die revolutionäre Gesinnung dar.
Dieses Solidaritätsgefühl sollte jedoch nach dem Sieg der Revolution deutlich abkühlen. Vor die Wahl zwischen Prinzipien- und Interessenpolitik gestellt, wählten die revolutionären Regierungen und Bewegungen in der Regel das letztere. So wurde das Zarenreich, trotz anderslautenden Voraussagen, von einem revolutionären Interventionskrieg verschont. Es ist indes zu bemerken, dass auch die Außenpolitik des Petersburger Kabinetts einiges dazu beitrug, eine solche Konstellation zu verhindern. Dem ersten, in kriegerischen Tönen abgefassten Manifest des Zaren vom 14. März 1848, in dem vom unversöhnlichen Kampf mit der Revolution die Rede war, folgte eine Woche später eine wesentlich mildere Erklärung. Der Zar ließ sich von seinem zur äußersten Vorsicht neigenden Außenminister Nesselrode überreden, die europäische Öffentlichkeit nicht derart stark zu provozieren. Das Manifest vom 20. März 1848 sprach von der Nichteinmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Frankreichs. Die vorsichtige Politik der zaristischen Regierung wird vom britischen Historiker Lewis B. Namier als einer der wichtigsten Gründe dafür angeführt, dass der Ost-West-Konflikt im Jahre 1848 nicht eskalierte.
Die Harmlosigkeit von 1848 hat Europa von dem jakobinischen Trauma befreit
Seinen ohnmächtigen Hass gegen die Revolution ließ Nikolaus I. nur dort austoben, wo dies keinen europäischen Krieg heraufbeschwören konnte. So intervenierte er im September 1848 in den von den europäischen Zentren weit entfernten Donaufürstentümern, um die dortige Revolution zu unterdrücken. Auch die Verfolgung der regimekritischen Kräfte in Russland selbst sollte sich infolge der Revolution im Westen zusehends verschärfen. Das ohnehin repressive Regime Nikolaus I. nahm nach 1848 beinahe despotische Züge an. Viele Zeitzeugen berichten, wie unerträglich das innenpolitische Klima im damaligen Russland war. Die kritisch denkenden Untertanen des Zaren, die 1848 noch kaum eine Gefahr für das Regime darstellten, mussten dafür büßen, dass Nikolaus I. zur außenpolitischen Passivität gezwungen war, dass ihm die Kraft fehlte, der siegreichen westlichen Revolution Paroli zu bieten.
Die Angst vor dem Vierten Stand (Proletariat), vor einem neuen jakobinischen Terror verdrängte bei den liberalen Urhebern der Revolution von 1848 in West- und Mitteleuropa beinahe gänzlich die Russlandfurcht. Die wahnhafte Angst der Franzosen vor dem Sozialismus habe sie in die Hände eines Despoten (Louis Bonaparte) getrieben, klagte Alexis de Tocqueville im Dezember 1851. All das geschehe ungeachtet der offensichtlichen Schwäche der „roten“ Partei. So scheiterte die Revolution in Europa in erster Linie an den Ängsten des europäischen Mittelstandes. Erst nach der Überwindung der revolutionären Gefahr begann die europäische Öffentlichkeit sich erneut mit Russland zu beschäftigen und rückte vom Primat der Innenpolitik ab. Nicht der Sieg der Revolution also, wie dies die europäischen Radikalen gemeint hatten, sondern ihr Scheitern schuf die Voraussetzungen für den seit Jahrzehnten propagierten Kampf gegen Russland.
Die Harmlosigkeit der Revolution von 1848 hat Europa von dem jakobinischen Trauma befreit, aber das hegemoniale, napoleonische Trauma blieb noch bestehen. Und wer außer dem Zaren wäre imstande gewesen, den napoleonischen Versuch zu wagen, ganz Europa – vom Atlantik bis Moskau – unter seinem Zepter zu einigen?
Gekürzte Fassung eines Beitrags, der im Online-Debattenmagazin „Die Kolumnisten“ erschienen ist.
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