Jetzt wird sie es sehen, hören und wissen. Was es auf sich hat mit dem Jenseits, das zu Lebzeiten ihre Grenzerfahrung und ständige Perspektive war. Die in Stuttgart 1954 geborene „religiös-musikalische“ Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff ist nach langer, schwerer MS-Krankheit am 13. Mai in Berlin verstorben. Transzendenz und „Ars moriendi“ waren ihr seit langem vertraut. Ihr Todestag war der 120. Geburtstag Reinhold Schneiders, als dessen unerkannte Nachfolgerin sie gelten könnte. Öfter erwähnt sie christliche Autoren wie Romano Guardini, Hans Urs von Balthasar, Hans Blumenberg (über den sie einen Roman schrieb) und immer wieder Dante mit seiner „Divina Commedia“.
Weichspül- und Wohlfühltheologie
Lewitscharoff war Tochter einer deutschen Mutter und eines (depressiven) bulgarischen Arztes, der den Freitod wählt und auf dessen Spuren wandelnd sie – mit dem ff ihres Namens kokettierend – 2009 den Roman „Apostoloff“ veröffentlichte. Sie studierte in Berlin bei Klaus Heinrich und Jacob Taubes, war zeitweise Trotzkistin und immer gegen rechten oder linken Totalitarismus engagiert. Für ihre herausragenden literarischen Werke erhielt sie unter anderem 1998 den Ingeborg-Bachmann- und 2013 den Georg-Büchner-Preis. Als Intellektuelle profilierte sie sich mit ihren Zürcher („Vom Wahren, Guten und Schönen“), Frankfurter und Wiener Poetikvorlesungen, konnte aber auch manchmal übers Ziel hinausschießen wie 2014 in einer Dresdener Rede über künstliche Fortpflanzung mit dem nachträglich bedauerten Begriff „Halbwesen“. Ihr oft grimmiger Ernst stößt an, ist jedoch nicht frei von spitzem und tiefgründigem Humor. Sterben, Tod und Jenseits standen in den letzten Jahren im Zentrum ihres Denkens und Schreibens.
Unerbittlich kritisierte Lewitscharoff in einem Interview mit dem Theologen Jan-Heiner Tück die Auswüchse einer „Weichspül- und Wohlfühltheologie“. Im „Tagespost“-Interview mit Ute Cohen (vom 22. Oktober 2020) äußerte sie im Blick auf die Verbrechen des 20. Jahrhunderts: „Ich will eine Gerichtsbarkeit haben, die wirklich straft“. Sie ergänzt aber auch: „Die Dreiteilung in Himmel, Hölle und Purgatorium finde ich wunderbar, das ist die beste Erfindung, die die Kirche je hervorgebracht hat. Der Dreiklang hat etwas Beruhigendes, die Doppelform wäre eine unmenschliche Form von Entscheidungsrichtlinie, zu scharf“. Vom protestantisch-freikirchlichen „Entweder-Oder“ fand sie zunehmend zum katholischen „Sowohl-als auch“, ohne dabei wie Ernst Jünger den Schritt der Konversion zu gehen. Mit dem Iraker Najem Wali (Berlin) machte sie interreligiöse „Streifzüge durch Bibel und Koran“ unter dem Titel „Abraham trifft Ibrahîm“ (Berlin 2018).
Der Florentiner Dante Alighieri, der sich in seiner „Göttlichen Komödie“ mit dem römischen Dichter Vergil auf die Reise durch alle Kreise der Hölle, des Fegefeuers und des Himmels gemacht hat, hat das Jenseits mehr als jeder andere für Sibylle Lewitscharoff repräsentiert. 2016 ließ sie im Roman „Das Pfingstwunder“ einen internationalen Kongress von Dante-Forschern in der Entrückung enden, 2019 in „Von oben“ einen Blick aus dem Überirdischen auf einen verstorbenen Professor werfen. 2020 vollendete sie ihre geniale danteske Trilogie zusammen mit Heiko Michael Hartmann (Berlin) unter dem Titel „Warten auf. Gericht und Erlösung: Poetischer Streit im Jenseits“. Es geht in diesem letzten Dialog Lewitscharoffs, der mit dem Kapitel „Mein Tod“ beginnt, um zwei zufällig nebeneinandersitzende Passagiere eines Airbus-Flugzeuges, einen Mann und eine Frau, die bei einem Absturz ums Leben kommen und sich im Jenseits nicht sehen, aber hören können.
Im Jenseits eine leuchtende Schönheit
Der Tod ist, ob man gläubig ist wie die mit Lewitscharoff sehr ähnliche Frau „Gertrud“ aus Stuttgart, oder skeptisch-atheistisch wie der namenlose Dialogpartner und Kierkegaard-Forscher, kein Ende des Nachdenkens und Fragens, sondern deren radikales Beginnen. Man könnte den ideenreichen Text einen Streitdialog im Fegefeuer nennen, ein hartnäckiges aneinander vorbeireden. Es geht um alles, um Identität, Gerechtigkeit, Erfahrung und Selbstfindung, um Emotion und Rationalität, um Erwartung und Gerichtsfurcht. Verzweifelt man selbst oder verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen ist die eigentliche „Krankheit zum Tode“, nicht eine sündhafte Tat. „Gertrud“ ist eine bildhaft-positive und fast barocke Theologin, ihr Gegenüber vertritt eine negative Theologie am Rand des Atheismus.
Der Jenseitsdialog kommt zu keinem Ergebnis, hat aber viele Fragen und Anfragen behandelt. Gewiss ist, dass es ein neues Leben unsterblicher Seelen nach dem Tode gibt. Zuletzt wird auch im Jenseits und nach dem Tod geglaubt, gehofft, geliebt und gebetet, damit wie bei Dante aus Mangel, Verzweiflung und Fegefeuer am Ende Fülle, Freude und Himmel werden kann – oder sich schon im Diesseits eine Glückserhebung einstellt, die „die Menschen durchrauschte und ihre Zungen auf jubilierende Weise lösen würde“ (Das Pfingstwunder).
Möge sich an Sibylle Lewitscharoff erfüllen, was sie Ute Cohen anvertraut hat: „Im Jenseits stelle ich mir eine andersgeartete geistig-körperliche und zugleich leuchtende Schönheit vor. Ich hoffe auf eine Neuverbindung des Leibes, auf den alten bin ich nicht scharf. Ich hoffe aber, dass die Eigenschaften, die ich an mir geglückt finde, weiterleben: eine gewisse Art von Witz, hintertriebene Schelmhaftigkeit. Fad darf‘s ja auch nicht werden!“ Die von vielen noch nachzuholende Lektüre ihrer Werke bleibt spannend und kann eine „postsäkulare“ (Jürgen Habermas) Glaubensstütze sein.
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