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Wo Flaubert in den Obduktionssaal schaute 

Die Normandie gehört zu den kulturträchtigsten Landschaften Frankreichs. Hier gewährt das „Musée Flaubert“ Einblick in das Leben des „Madame Bovary“-Schriftstellers Gustave Flaubert.
Im „Musée Flaubert“ in Rouen verbindet sich die Geschichte der Literatur mit der der Medizin.
Foto: Benard E/Andia.fr via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Im „Musée Flaubert“ in Rouen verbindet sich die Geschichte der Literatur mit der der Medizin.

Vom Alten Marktplatz in Rouen aus, der Place du Vieux Marché, führt die Avenue Gustave Flaubert zu der etwas abseits gelegenen Rue Lecat. Dort – Nr. 51 – befindet sich das „Musée Flaubert et d’Histoire de la Médecine“. Ein Museum, das also nicht nur dem am 12.12.1821 dort geborenen Schriftsteller, sondern auch der Geschichte der Medizin gewidmet ist. Es zählt zu den 250 „Maisons des Illustres“ des Landes, besonderen Stätten, die an Berühmtheiten erinnern. Außerdem wurde es als „Musée de France“ ausgezeichnet und zählt offiziell zu den historischen Monumenten. 

Zwei Museen in einem. Dies erklärt sich dadurch, dass der Vater von Gustave – Achille Cléophas Flaubert – hier als Chefchirurg des Krankenhauses Hôtel-Dieu praktizierte und mit seiner Familie ein Nebengebäude, den Pavillon, bewohnte. Seinen später – u. a. durch Romane wie „Madame Bovary“, „L’Éducation sentimentale“ (Die Erziehung des Herzens oder Lehrjahre des Gefühls) oder „Salambo“ – berühmt gewordenen Sohn prägte die etwas morbide Atmosphäre, in der er aufwuchs, tief: 
  
„Der Obduktionssaal des Hôtel-Dieu lag zu unserem Garten hin. Wie oft sind meine Schwester und ich am Spalier hochgeklettert und haben, zwischen den Weinreben hängend, neugierig die aufgebahrten Leichen betrachtet! Ich sehe noch meinen Vater, wie er beim Sezieren den Kopf hebt und uns befiehlt, wegzugehen.“

Inspiration durch die Stadt Rouen 

Die Beziehung zu seinem Geburtsort war auch kein glückliches Kapitel. Zwar erinnern dort heute unter anderem eine Brücke über die Seine, „Pont Gustave Flaubert“, das „Quartier Flaubert“ am linken Ufer der Seine und eine Bronzestatue auf der Place des Carmes an ihn, doch sein Verhältnis zu Rouen war, gelinde gesagt, getrübt: „Ist das dumpf. Und widerlich! Gestern bei Sonnenuntergang sickerte die Langeweile so subtil und phantastisch aus den Mauern, dass man auf der Stelle ersticken konnte.“ Von Rouen ließ er sich jedoch auch inspirieren. Das Saint-Julien-Glasfenster in der Kathedrale brachte ihn auf die Idee zu einer Erzählung, und eine Szene von „Madame Bovary“ spielt darin. Nun aber öffnet ein Museumswärter das Eingangstor und geleitet durch den Garten ins Museum. 
  
Der Geschichte der Medizin ist ein Großteil der Ausstellungsstücke gewidmet, wobei die Verbindung zur Literatur in mehrfacher Hinsicht gegeben ist. Gustave Flaubert beobachtete scharf, und seine psychologischen Beschreibungen wirken zuweilen geradezu klinisch kühl, so als wolle er Seelenzustände gleichsam sezieren. Porzellangefäße für Medikamente, pharmazeutische Keramiken, übergroße medizinische Bücher und berühmte Ärzte darstellende Ölgemälde versetzen in die Vergangenheit. Sehr anschaulich und informativ sind Exponate, die sich dem dunklen Kapitel unzähliger verlassener Kinder im Rouen des 19. Jahrhunderts widmen. 

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Der Anblick einiger der anatomischen Wachsfiguren (für die medizinische Ausbildung) von Jean-Baptiste Laumonier (1749–1818), der hier 1785 Chefchirurg wurde, geht unter die Haut. Dies gilt besonders für die Köpfe von François Bordier und Jourdain, die er mumifizierte. Diese galten als Aufwiegler und wurden im Revolutionsjahr 1789 in Rouen gehängt. Bordier war ein in Paris berühmter Schauspieler, besonders in der Rolle des Harlekins. Werfen wir nun noch einen Blick in das „Kuriositätenkabinett“. Ein Krankenhausbett war zum Beispiel so konzipiert, dass sechs Personen gleichzeitig darin liegen konnten. Eine Geburtspuppe aus dem 18. Jahrhundert – aus Leinen und Leder – war von der Hebamme Angélique Du Coudray zu Lehrzwecken entworfen worden. 
  
Doch nun zu Gustave Flaubert (1821–1880), der oft in einem Atemzug mit Honoré de Balzac und Stendhal (Pseudonym für Marie-Henri Beyle), den großen, zur Weltliteratur zählenden französischen Romanciers genannt wird. Über eine nach oben führende Treppe gelangt man in das Zimmer, in dem er geboren wurde. Ein Porträt über dem Bett zeigt ihn als kleinen Jungen, mit weißem Kragen, schwarz-rotem Umhang samt Halstuch und einem wachen, beobachtenden Blick. Auffällig ist – ob nun auf Gemälden oder Zeichnungen, die ihn in jungen Jahren oder in vorgerücktem Alter darstellen – sein trübsinnig wirkender Gesichtsausdruck. 
  
Stellen zwei Büsten seine Mutter und seine Schwester Caroline dar, die ihm nahestanden, so imponiert besonders die seines Vaters mit seinem mächtigen Kopf. Achille Cléophas wollte aus seinem Sohn einen Juristen machen, und Gustave musste erst ein Krankheitsanfall (ob Epilepsie oder ein nervöses Leiden, ist umstritten) zu Hilfe kommen, sodass er sein Jurastudium deshalb aufgeben und sich ganz auf die Literatur konzentrieren konnte. Eine starke Neigung hierzu zeigte sich bei ihm – durch Theaterstücke und Erzählungen – schon sehr früh, und „écrire“, Schreiben, blieb seine Passion.

Es kommt auf das eine Wort an 

Gustave Flaubert, ein Autor von ungeheurer Vorstellungskraft, der aber an seinen Texten auch extrem arbeitete und so intensiv recherchierte wie kaum jemand. Er liebte das Leben nicht; Kunst war ihm alles, und so war er immer auf der Suche nach „le mot juste“, dem einzig stimmigen Wort, um Sätze zur Perfektion zu treiben. Schön sollten sie klingen, wie vollendete Verse.  Zu den besonders anrührenden Flaubert-Erinnerungsstücken gehören eine Schreibfeder, Originalhandschriften und seine Totenmaske. 

Der Philosoph, Romancier, Dramatiker und Essayist Jean-Paul Sartre widmete ihm eine groß angelegte Studie, die einen leicht missverständlichen Titel trägt: „Der Idiot der Familie.“ Leichter zugänglich sind Werke aus Flauberts eigener Feder, zum Beispiel eine Auswahl seiner Briefe, die zu den herausragenden Zeugnissen französischer Literatur zählen, oder die Erzählung „Ein schlichtes Herz“. Begegnen kann man ihm auch in zahlreichen Passagen des ebenfalls monumentalen „Journals“, den Tagebüchern der Brüder Goncourt. 

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