Wenn man auf der SPD-Homepage nach den Zielen von Olaf Scholz sucht, wird man fündig es geht ihm um eine „Gesellschaft des Respekts“. En Detail: „Wir machen Politik für eine Gesellschaft des Respekts. Eine Gesellschaft, die Vielfalt als Stärke begreift und jede Leistung und jeden Lebensentwurf anerkennt. In der der Staat den Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe begegnet und dem Anspruch gerecht wird, ihr Leben einfacher zu machen und sie auf Veränderungen vorzubereiten.“ Das hört sich gut an, diese Worte des amtierenden Bundeskanzlers. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Hierzu lohnt es sich, ein paar aktuelle Eckdaten der Bundesrepublik und der Politik des Bundeskanzlers zu betrachten.
Armut ist ein gesellschaftliches Problem
Erstens: Armut. Laut dem Paritätischen Armutsbericht von 2022 ist Armut zu einem gesellschaftlichen Phänomen avanciert. Während die Armutsquote 2006 bundesweit von 14,3 Prozent auf 16,6 Prozent im Jahr 2021 anstieg, sanken gleichzeitig im selben Zeitraum, zum einen die SGB-II-Quote (sie bezeichnet laut Sozialberichte NRW „den prozentualen Anteil der Leistungsberechtigten (LB) an der Bevölkerung unter der Altersgrenze nach 7a SGB II.“) von 10,9 auf 8,1 Prozent, und zum anderen die Arbeitslosenquote von 10,9 auf 5,7 Prozent. Ergo: Immer mehr Bürger sind auf staatliche Leistungen angewiesen, auch mit Einkommen. Paradoxerweise stieg im selbigen Zeitraum das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner von 29383 auf 42918. Und auch Altersarmut, die jeher nur eine Randerscheinung war, spielt seit 2014 eine bedeutsame Rolle. Mit 17,9 Prozent im Jahr 2021 erreichte sie „einen historischen Wert“.
Es verwundert daher nicht, dass laut „Die Tafel“ (Stand: November 2022) insgesamt „963 Tafeln im Dachverband mit zusammen mehr als 2000 Ausgabestellen“ existieren. Über 2 Million Armutsbetroffene nehmen dieses Angebot der Tafeln an. Armut ist demnach ein gesellschaftliches Problem. Das verdeutlicht auch die Sozialleistungsquote. Sie gibt die Summe aller Sozialleistungen in Prozent des BIP an. Die Quote stieg von 18,3 Prozent im Jahr 1960, in den alten Bundesländern, auf 30,1 Prozent im Jahr 2019 an. 2021 sollen es geschätzte 32,5 Prozent sein, so das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Selbstverständlich trägt Olaf Scholz hierfür als Bundeskanzler nicht die Hauptverantwortung, doch einen „Ruck“, diese Zahlen ehrlich zu ändern und damit mehr Menschen aus der Armut zu führen, ist bisher ausgeblieben.
Anti-amerikanische Ressentiments
Zweitens: Nähe zu Russland und Distanz zu Amerika. Die vergangenen Monate haben es gezeigt: Olaf Scholz und die „Ampel“-Koalition tun sich schwer, Seite an Seite mit den westlichen Partnerländern gegen den russischen Aggressor vorzugehen. Stattdessen hängen sie einem rückständigen, schwärmerisch-verzerrten Bild Russlands an, das Rainer Maria Rilke sehr gut zur Sprache brachte: „Dieses [Russland] ist das Land des unvollendeten Gottes, und aus allen Gebärden des Volkes strömt die Wärme seines Werdens wie ein unendlicher Segen aus.“ Das war 1920. Heute haben wir 2023. In der Zwischenzeit hat sich so einiges geändert. Trotzdem scheinen, insbesondere deutsche Genossen, Russland weiterhin als träumerischen Gegenentwurf zum „bösen“ kapitalistischen Westen zu idealisieren. Dass in Russland Oppositionelle eingesperrt werden oder eine breite Bevölkerung in Armut lebt, wird nonchalant von Russland-Schwärmern übersehen. Stattdessen werden irrationale Ressentiments gegen die USA kultiviert.
Das dürfte auch Sahra Wagenknechts gedankliche Entgleisungen erklären. Die Linken-Politikerin spricht aus, was sich viele Sozialdemokraten und Linke nicht trauen zu sagen. Zwar verurteilt die Linken-Politikerin den Angriff Russlands auf die Ukraine aufs Schärfste, schwenkt jedoch umgehend ins anti-amerikanische Ressentiment-Mantra: Die USA hätten die russische Föderation provoziert, es sei ein Stellvertreterkrieg der NATO. Vor Kurzem übertraf sie sich sogar noch einmal selbst. Sie unterstellte der Ukraine, sie versuche, durch ihre wiederholten Forderungen nach Waffenlieferungen, die NATO in diesen Krieg hineinzuziehen. Das ist Russland-Verherrlichung par excellence.
Wo bleibt das „Erdbeben von Berlin“?
Und Olaf Scholz? Scholz Zögern und Zaudern reiht sich reibungslos in Wagenknechts Gedankengänge ein. Nach dem Ramstein-Gipfel-Debakel, auf dem Deutschland die Lieferung von Kampfpanzern als einziges Land blockierte, wurde Scholz in russischen Medien als Held gefeiert. Auf dem Kanal „Reverse Side of the Medal“, einem russischen Propaganda-Kanal auf Telegram, der der Söldner-Truppe „Wagner“ nahestehen soll, heißt es: „FSB-Oberst Olaf Scholz, der eigenmächtig die Lieferungen dutzender deutscher Panzer an die Ukraine aufgehalten hat, wird die Auszeichnung Held der Russischen Föderation verliehen.“ Nota bene: FSB ist der russische Inlandgeheimdienst.
Dabei darf man nicht vergessen: Mit seiner Russlandpolitik spielt Scholz der AfD in die Hände, die sich gegen Waffenlieferungen und Russlandsanktionen positioniert. AfD-Politiker, Timo Chrupalla, erklärte sogar Grüne und FDP zu „Kriegstreibern“. Gleichzeitig lobt er den Kanzler. Seltsam? Heißt es nicht immer seitens der links-grünen Fraktion, man dürfe sich nicht Lob von der „falschen“ Seite einheimsen? So wie damals beim „Erdbeben von Erfurt“, 2020, als Thomas Kemmerich (FDP) mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt wurde. Weil der Druck deswegen anstieg, trat dieser kurze Zeit später zurück.
Wo bleibt das große „Erdbeben von Berlin“? Müsste es nicht Rücktrittsforderungen an den Kanzler geben, der sich mit der AfD gemein macht? Abgesehen hiervon: Das dauernde Hin-und-Her des Kanzlers schadet massiv dem Ansehen Deutschlands in der Welt. Wer möchte mit einem Verbündeten oder Partner verhandeln, der sich nicht entscheiden kann? Ein Land, das nicht mehr ernst genommen wird, verliert auf der internationalen Bühne an Respekt.
Investition ins Klima, nicht in den Bürger
Drittens: Radikaler Egoismus. Bereits in den 1980er- Jahren kritisierten nicht wenige SPD-Mitglieder die polnische Solidarnos-Bewegung, diese solle die innerpolitische Situation akzeptieren. Dabei berief sich die Bewegung, in ihrem Protest gegen das kommunistische Regime, auf die Menschenrechte. Stellt nicht gerade die „Internationale“ das sozialdemokratische Ideal dar? Wie dem auch sei. Das erinnert unweigerlich an ein Bonmot Friedrich Hölderlins: „Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt, ich weiß von nichts, als meiner seligen Insel.“ Sobald der Sozialdemokrat nicht selbst betroffen ist, von Krieg, Armut und Leid, schaut er nur auf den eigenen Vorteil. So investiert der Kanzler ins Klima, aber nicht in den Bürger. Innenpolitisch.
Außenpolitisch zeigt er sich unsolidarisch, zaudert mit Waffenlieferungen und lässt sich China in den Hamburger Hafen einkaufen. Trotz Warnungen aus In- und Ausland weiß Deutschland es anscheinend wieder einmal besser, oder schaut nur auf den eigenen Profit. Auch das ist keine Erfindung von Olaf Scholz, man erinnere sich nur an die Nord-Stream-2-Gaspipeline. Doch auch hier fehlt ein Ruck, ein Umdenken. Man könnte auch sagen: der Respekt vor der Wirklichkeit. Stattdessen scheint die Regierungskultur der lethargischen Arroganz sich fortzusetzen.
Viertens: Die Europäische Union (EU) als deutscher Traum. Der niederländische Publizist Ren Cuperus schreibt in „7 Mythen über Europa“, dass Deutschland die EU als „eine Art vergrößerte Bundesrepublik, nur mit zusätzlichen Bundesländern“ sehe. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung mit ihrer Forderung nach einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ zeugt hiervon. Jedoch nimmt es Deutschland damit nicht immer so genau. Fast alle anderen europäischen Mitgliedsstaaten handhaben eine andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, Deutschland geht allein; die EU stufte Atomkraftenergie als nachhaltig ein, Deutschland wettert gegen Atomkraft; die EU möchte der Ukraine Kampfpanzer liefern, Deutschland zögert. Tut es dann doch. Sofern es Deutschland passt, macht es mit, andernfalls geht es alleine. Respektlos!
Willkommen in Scholzland!
Fünftens: Wort-Tat-Diskrepanz. Nicht nur hierzulande sehen Bürger diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten. Vor diesem Hintergrund wirkt der Anspruch der SPD, eine „Führungsrolle“ innerhalb Europas und weltweit zu übernehmen, ziemlich ulkig. Wer führen will, muss auch schnelle Entscheidungen treffen. Einerseits. Andererseits darf er seine Entscheidungen nicht abhängig von anderen Verbündeten machen, wie es Scholz bei der Lieferung der Leopard-2-Kampfpanzern machte, indem er versuchte, die Verantwortung an die Vereinigten Staaten zu dirigieren. So wird Deutschland zum Gespött der Welt. Der britische Historiker, Timothy Garton Ash, erfand sogar einen Begriff: „Scholzing“, was bedeutet: „communicating good intentions, only to use/find/invent any reason imaginable to delay these and/or prevent the from happening“ (gute Absichten zu kommunizieren, nur um jeden erdenklichen Grund zu nutzen/finden/erfinden, um diese zu verzögern und/oder zu verhindern).
Halten wir also fest: Erstens, immer mehr Menschen sind von Sozialleistungen abhängig, Armut ist zu einem festen Bestandteil des Systems geworden. Zweitens, die Interessen Deutschlands scheinen weiterhin eng verknüpft zu sein mit einer befremdlichen Polit-Russophilie. Drittens, radikale Egoisten verweigern sich der brutalen Wirklichkeit, die Russland dem Westen aufgezwungen hat, und frönen weiterhin einem utopischen Pazifismus. Viertens, Sozialdemokraten halten, entgegen europäischer Bündnispartner und nicht weniger deutscher Bürger an ihrem „föderalen europäischen Bundesstaat“ fest. Fünftens, Worte und Taten stimmen immer seltener überein. Willkommen in dieser „Gesellschaft des Respekts“. Willkommen in Scholzland!
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.