Stark durch Krisen

„...wie dich selbst“

Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, sich selbst zu stärken. Einem Bibelvers kommt dabei eine besondere Rolle zu.
Jahresausstellung der Burg Giebichenstein
Foto: Jan Woitas (dpa-Zentralbild) | Zum Spaß in einem Hamsterrad zu laufen, mag für eine Zeit lang lustig sein. Wenn es aber der Dauerzustand ist, nicht.

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das Gebot der Nächstenliebe theologisch zu entfalten, sei den Theologen überlassen. Im Folgenden soll es darum gehen, die letzten drei Worte des zitierten Bibelverses aus psychologischer Sicht zu reflektieren. Nein, nicht als Egotrip, nicht als Selbstzentrierung und auch nicht auf Kosten der Nächstenliebe. Sondern als gesunde Form der Selbstannahme und vielleicht auch -fürsorge. Das heißt, es geht darum, sich selber lieben zu können, bodenständig, ehrlich, ohne sich selber zu erhöhen aber auch ohne Selbstzweifel.

Wie kann ich mich selber annehmen, mit meinen Ecken und Kanten, mit meinen Runzeln und Flecken, mit meinen Risiken und Nebenwirkungen? Mich, also mich als Person, mit allem, was dazugehört. Dazu zählen einige harte Fakten wie Alter, Größe und Geschlecht. Aber auch eher weichere Faktoren, die mir keiner ansieht, wie etwa unerfüllte Wünsche, meine stimmige oder brüchige Identität, meine Alltagsmasken, hinter denen ich mich manchmal verstecke und anderen etwas vorspiele. Also, Augen auf im Straßenverkehr: Kann ich mich mit meinem Gewordensein, mit meinen unterschiedlichen Rollen im Alltag, im Beruf, in der Familie, im Verein wirklich annehmen und authentisch sein? Oder gibt es Dinge, über die ich vielleicht noch einmal mit jemanden sprechen und diese aufarbeiten sollte?

„Vielleicht ist das einfacher gesagt als getan, aber warum nicht
einmal wieder über sich selber so richtig lachen
– über das eine oder andere Fettnäpfchen, dem ich nicht ausgewichen bin?“

Manches konnte ich mir ja nicht aussuchen, was mir als Erbgut mit in die Wiege gelegt worden ist. Das können Stärken sein, wie beispielsweise eine hohe Resilienz, psychische Widerstandskraft im Umgang mit belastenden Ereignissen. Das können aber auch Veranlagungen für den Ausbruch von Krankheiten sein, wie beispielsweise eine Suchtneigung, auch wenn ich nicht als Alkoholiker geboren wurde. Dazu ja sagen zu können, mag nicht immer selbstverständlich und einfach sein.

Ein besonderes Thema in diesem Zusammenhang kann auch meine Rolle in der Familie sein, etwa eine für mich ungünstige Geschwister-Konstellation. Wenn ich als „Sandwich-Kind“, also zwischen einem jüngeren und älteren Geschwisterkind aufgewachsen bin, war mein großer Bruder vielleicht für mich zwar eine Stütze und meine kleine Schwester war schon zu Recht irgendwie das Nesthäkchen; aber ich kann mit meinen emotionalen Bedürfnissen doch ganz schön auf der Strecke geblieben sein. Von daher ist es gut, wenn ich nochmal genau hinschaue, was mir wann gefehlt hat und wo ich vielleicht noch einmal das familiäre oder auch therapeutische Gespräch zur Vergangenheitsbewältigung suche. Mit Blick nach vorn geht es dann darum, für meine emotionalen Bedürfnisse zu sorgen, etwa durch stabile, persönliche Beziehungen.

Nicht mit anderen vergleichen - das ist nicht relevant

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Andere scheinen da eher von Anfang an auf der Sonnenseite des Lebens gestanden zu haben. Aber, Achtung Falle! Durch den oft automatisch ablaufenden Vergleich mit anderen kann ich mich und mein Selbstbewusstsein selber ins Aus katapultieren. Denn ich finde immer jemanden, dem es besser geht als mir, der mehr besitzt, mehr Einfluss hat. Der Schuss kann also nur nach hinten losgehen! Warum immer wieder die eigenen Nerven strapazieren und die eigene Frustrationstoleranz herausfordern?

Von daher ist es gut, wenn ich mir der Gefahr des ständigen Vergleichens bewusst werde und ihr widerstehe.  Auch wenn ich mich nicht mit anderen vergleiche, können im Alltag doch biografische Stolperfallen auf mich warten in Form von erlebten Enttäuschungen und psychischen Verletzungen. Sofern ich diese nicht bearbeite oder überwinde, können sie dazu führen, dass ich innerlich in einer Hab-Acht-Stellung lebe und mir möglicherweise auch einen harten Panzer oder zumindest eine harte Schale zulege, um nicht noch weiter verletzt zu werden. Den Nächsten dann zu lieben wie sich selber wird denkbar schwer, weil ich mit mir selber genug zu tun habe.

Man darf sich auch seinen Gefühlen hingeben

Hilfreich ist es dann, Enttäuschungen und psychische Verletzungen nicht mit sich selber auszumachen, sich zurückzuziehen und in der Gefahr zu stehen, verbittert zu werden, sondern sich stattdessen Hilfe zu suchen, sich zu öffnen, und daran zu arbeiten, diese Themen unter die Füße zu bekommen. Hilfreich scheint es auch zu sein, wenn ich mich und meinen Umgang mit Stresssituationen gut kenne. Wann bin ich besonders empfindlich? Wenn mir nach einem langen Arbeitstag im Straßenverkehr jemand die Vorfahrt nimmt oder wenn meine Partnerin den letzten Joghurt im Kühlschrank gegessen hat?

Unter hoher oder anhaltender Belastung liegen auch die besten Nerven, die unter Normalbelastung rücksichts- und verständnisvoll reagieren, irgendwann blank. Manchmal kann es innere Stärke sein, zunächst nachzugeben, eine Situation zu verlassen und nach etwas Luft holen erneut das Gespräch oder eine Klärung zu suchen. Das Ganze im Sinne eines gesunden Konfliktmanagements, das auch meine Ressourcen schont. Wenn ich meine empfindlichen Stellen kenne, lassen sich manche Stressmomente oder zumindest Eskalationen vielleicht auch vermeiden.

Selbstfürsorge ist Wertschätzung

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Mich selbst zu lieben heißt aber nicht nur, mich selber anzunehmen und mögliche Defizite aufzuarbeiten, sondern auch aktiv für mich selber zu sorgen. Wenn ich einen anderen liebe, dann schätze ich ihn, supporte ihn und nehme auf ihn Rücksicht. Ich wende mich dem anderen zu, nehme mir Zeit, höre zu, unterstütze ihn, schenke Aufmerksamkeit, kommuniziere, bin zugewandt. Das gilt aber auch mir. Das heißt, dass ich meine Bedürfnisse wahrnehme, sie ernst nehme, auf mich achte, mir etwas gönne und Dinge genießen kann. Das Thema Achtsamkeit hat da sicherlich einiges zu bieten. Für sich selber zu sorgen und auf sich zu achten hat von daher auch etwas mit Wertschätzung zu tun. Und die ist sicher nie verkehrt.

Was kann ich sonst noch in die Waagschale werfen, um für mich zu sorgen? Nach Zeiten der Anspannung kann dem einen zur Entspannung Sport helfen, ein Zweiter musiziert und eine Dritte geht mit ihrem Hund spazieren. Allen drei hilft es möglicherweise, ihren nächsten Urlaub zu planen. Einfach, um auf andere Gedanken zu kommen und um innerlich einmal aus dem Hamsterrad des emotional grauen Alltags auszusteigen. Eine mögliche Form der Selbstfürsorge kann auch Humor sein. Vielleicht ist das einfacher gesagt als getan, aber warum nicht einmal wieder über sich selber so richtig lachen – über das eine oder andere Fettnäpfchen, dem ich nicht ausgewichen bin?

Selbstannahme ist unumgänglich

„Geteiltes Leid ist halbes Leid“ ist im Umgang mit Belastungen sicher eine gute, rezeptfreie Anleitung, denn es geht um Kommunikation. Von der nicht nur Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen profitieren, sondern die auch in engsten Beziehungen eine Hilfe ist. Aber es geht nicht nur darum, Alltagsnöte und -sorgen im Gespräch zu teilen, sondern auch Positives gemeinsam zu erleben und zu teilen. Ein gemeinsamer Konzert- oder Stadionbesuch dürfte für die meisten ein intensiveres Erlebnis sein, wenn sie diesen mit anderen erleben als allein.

Zurück auf Los: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das „… wie dich selbst“ könnte zusammengefasst und to go heißen, dass ich mich selber annehme, mich nicht mit anderen vergleiche, versuche, im Umgang mit Verletzungen und Enttäuschungen nicht mit Rückzug und Verbitterung zu reagieren, auf eine gute Selbstfürsorge – auch in Stresssituationen – achte und dabei meine Ressourcen nutze. Dazu zählen auch vertraute Gespräche und positive Erlebnisse mit anderen. Also, Kopf hoch und Brust raus. Los geht`s!


Der Autor arbeitet als Psychologe mit drogenabhängigen Straftätern im Maßregelvollzug.

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