Schönheitsideal

Wer schön sein will, muss schneiden

Die Zahlen zeigen: Schönheit kommt heute von Nadel und Skalpell. Wie wir verlernen, was schön ist.
Schönheits-OPs
Foto: Adobe Stock | Menschen wird das Aussehen immer wichtiger. Allein in den letzten vier Jahren ist die Zahl der kosmetischen Eingriffe weltweit um knapp 34 Prozent gestiegen.

Volle Lippen, glatte Haut, schmale Taille, breite Hüften. Das waren die Schönheitsstandards der 2010er Jahre. Kopien davon finden sich heute an jeder Straßenecke, in jedem „hippen“ Werbespot und überall auf den sozialen Medien, populär gemacht durch Supermodels und Promis wie Kim Kardashian oder Bella Hadid. Jeder weiß eigentlich, dass dieses Ideal nur durch Operationen und Eingriffe zu erreichen ist. Trotzdem machen viele mit. 2022 schwingt das Pendel um: Dünn ist wieder „in“, hagere Gesichter, schmale Körper. Kim nimmt Diabetes-Tabletten, Sängerin Leah Michele lässt sich Fettpolster aus den Wangen operieren. Was bleibt: Der Leib ist Fleischskulptur. 

Der Leib ist Fleischskulptur

Allein in den letzten vier Jahren ist die Zahl der kosmetischen Eingriffe weltweit um knapp 34 Prozent gestiegen. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der jährlichen Botox-Behandlungen in den USA verfünffacht. Menschen wird das Aussehen immer wichtiger. Kaum verwunderlich in einer Gesellschaft, in der man die Weltöffentlichkeit ständig und ewig in der Tasche mit sich herumträgt. Durch die sozialen Medien steigt der Druck – besonders auf Frauen – einen Schönheitseingriff in Erwägung zu ziehen. 

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Bei der Patientenbefragung der Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) gaben 2022 10,6 Prozent der Patienten an, dass ihr Wunsch nach einem Eingriff durch die sozialen Medien verstärkt worden sei. Zum Vergleich: 2020 waren es nur 2,3 Prozent. Über ein Drittel der Patienten unter 30 Jahren gab an, dass Promis und Influencer ihnen das Gefühl vermittelten, der Gang zum Schönheitschirurgen sei ganz normal. Aber Schönheitschirurgen warnen vor diesen Eingriffen – denn oft basieren sie auf kurzlebigen Trends. Und nur wenige Eingriffe kann man rückgängig machen, auch wenn Hersteller das Konsumenten gerne suggerieren.

Besonders beliebt sind aktuell sogenannte „minimalinvasive Eingriffe“. Darunter fallen natürlich Botox-Behandlungen, aber auch Unterspritzungen mit Hyaluron – ein Beauty-Trend, der auf den sozialen Medien in den letzten Jahren hoch im Kurs stand. Diese „Filler“ können fast überall am Körper eingesetzt werden, um Volumen und damit Kurven zu kreieren. Zwischen 2018 und 2021 ist die Nachfrage nach sogenannten minimalinvasiven Eingriffen weltweit um knapp 55 angestiegen, wie die International Society of Aesthetic Plastic Surgery (ISAPS) angab. 

Hyaluron: Kein harmloser Trend

Das spiegelten die sozialen Medien wider, besonders Instagram, YouTube und TikTok: Influencer filmten sich dabei, wie sie ihre Lippen, Stirn, Augenringe oder die Nase mit Hyaluronsäure unterspritzen ließen und empfahlen die Prozedur ihren Followern weiter. Die Unterspritzung mit Hyaluron verlockt nicht nur, weil es den (damals) richtigen „Look“ ermöglichte, sondern weil der Eingriff vergleichsweise billig ist – und, weil es sich laut Herstellern nach einigen Monaten von selbst im Körper abbaut. Wem es nicht gefällt, kann also einfach abwarten – oder es eben nachspritzen lassen. 

Aber ganz so einfach ist es nicht. In YouTube-Videos des Victorian Cosmetic Institute, einer Schönheitsklinik in Australien, zeigt der Gründer und Plastische Chirurg Gavin Chan mittels Kernspintomographie, dass Hyaluron, anders als versprochen, nicht im Körper abgebaut wird – es verrutscht nur. Schwerkraft und Muskelbewegung verdrängt die Masse von den Augenringen in die Wangen, von den Lippen in den Nasen- oder Kinnbereich. Langjährige „Spritzer“ sind, ähnlich wie solche, die es mit dem Botox übertreiben, leicht erkennbar: Hamsterbäckchen, chronisch geschwollene Tränensäcke und wulstige Lippen. Zwar gibt es die Möglichkeit, Hyaluron durch die Injektion des Enzyms Hyalase aufzulösen, doch das kann die aufgespritzte Haut oft schlaffer erscheinen lassen, weil körpereigenes Hyaluron mitabgebaut wird. 

Fälle von schweren Komplikationen mehren sich

Außerdem ist die Unterspritzung mit Hyaluron alles andere als harmlos. Es gibt, auch in Deutschland, bereits Fälle von schweren Komplikationen: Gerade, wenn Hyaluron in Stirn- und Augenbereich gespritzt wird, können Patienten erblinden oder eine Nekrose erleiden. Dieses Risiko ist besonders dann gegeben, wenn der Eingriff durch Nicht-Mediziner vorgenommen wird, denen das anatomische Grundwissen fehlt. Heilpraktiker zum Beispiel dürfen in Deutschland legal Hyaluronspritzen setzen. Die DGÄPC warnen sogar vor DIY-Schönheitsbehandlungen, die auf Social Media verbreitet werden. Es gibt zudem keine Langzeitstudien, weil Hyaluronspritzen erst in den frühen 2000ern zugelassen wurden. Es fehlt an Aufklärung, gerade in den sozialen Netzwerken, wo der Wunsch nach einer Veränderung oft erst aufkeimt. Für viele hat das Folgen.

„Alle Änderungen, die ich durchgeführt habe, haben sich nicht gut angefühlt. Das war alles nicht ich.“ In einem YouTube-Video mit über einer Million Zugriffen dokumentiert die Influencerin Jasmin Gnu, wie sie ihre Filler wieder auflösen lässt. Das ehemalige Model rät Zuschauern davon ab, Schönheitseingriffe durchführen zu lassen und betont, dass ihr Wunsch nach Veränderung durch den Vergleich mit anderen Frauen online sowie negative Kommentare über ihr Äußeres erst entstanden sei.  

Doch der Einfluss dessen, was wir jeden Tag sehen, ist wie eine gute Schönheits-OP: sehr subtil. „Selfie-Dysmorphia“ ist mittlerweile ein gängiger Begriff. Er beschreibt das Phänomen, dass Jugendliche ihr Gesicht so verändern wollen, wie sie es durch die Selfie-Kameras und Schönheits-Filter ihres Handys sehen. Im Spiegel und auf Fotos durch eine Front-Kamera sieht das Gesicht anders und für die Betroffenen „falsch“ aus, weil sie sich an das gefilterte Aussehen gewöhnt haben. 

ZT: Wir wollen sein, was wir sehen

Bereits 2015 zeigte eine Studie der australischen La Trobe University, dass die Bearbeitung von Selfies heranwachsende Mädchen unglücklicher macht. Die DGÄPC fordert die Politik zum Handeln auf, weil sie eine wachsende Nachfrage von nicht rationalen Optimierungswünschen bei der jungen und mittleren Zielgruppe festgestellt habe.

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Aber es geht nicht nur um Jugendliche, die mit den sozialen Medien aufwachsen. Die COVID-Maßnahmen wirkten sich, wie die DGÄPC herausfand, auf die Nachfrage von Unterspritzungen und Augenlid-Straffungen aus, da durch Zoom-Konferenzen und das Maskentragen der Fokus auf die Augen gelenkt wurde. Es sind also nicht nur die sozialen Medien, das bewusste Vergleichen, die uns beeinflussen, sondern auch die zunehmende Digitalisierung des Alltags. Was wir sehen, macht, wie wir aussehen wollen. Aber wer bestimmt, was wir sehen?

 „Keeping up with the Kardashians“ ist eine Reality-TV-Serie, die das Leben der Fernsehstar-Dynastie verfolgt. Im Zentrum steht Kim Kardashian, die Ex-Frau des schillernden Rappers Kanye West. Obwohl jeder weiß, dass die Kardashians durch nichts als Marketing und die Ausschlachtung ihres Privatlebens berühmt geworden sind, geben sie seit mindestens einem Jahrzehnt vor, was „in“ ist. Von ihnen kommt jenes Gesicht, das jede Frau haben will, ob sie es weiß oder nicht: „Natürlich jung, mit porenfreier Haut, und vollen, hohen Wangenknochen. Es hat katzenartige Augen und lange, karikaturistische Wimpern; eine kleine, gerade Nase und volle, üppige Lippen. Es schaut dich neckisch, aber ausdruckslos an […]. Es ist das Gesicht einer Weißen, ist aber gleichzeitig unbestimmt ethnisch“: So beschrieb die „New Yorker“-Journalistin Jia Talentino das „Instagram-Gesicht“ schon 2019. Talentino zitiert Colby Smith, einen Make-Up-Künstler für Prominente: „Ich glaube, 95 Prozent der meistgefolgten Instagram-Nutzer hatten irgendeine Form von Schönheitseingriff. Man sieht, dass Dinge in Mode kommen – aktuell lassen sich viele die Augenbrauen mit Botox liften.“

Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend

Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend. Auf nudeldick folgt spannenlang. Im letzten Sommer haben die Kardashians wieder Schlagzeilen gemacht: Sie nahmen ab und ließen offenbar ihre Implantate oder Fettpolsterungen entfernen. Man munkelte, dass ein neues Diabetes-Medikament, Semaglutid, es möglich gemacht hatte, eine zweifelhafte Kur, zu der sich auch schon Tech-Unternehmer Elon Musk auf Twitter bekannt hatte. Der dadurch entfachte Hype führte zu Lieferengpässen. Zuckerkranke Patienten gingen leer aus.

Seitdem haben sich schon mehrere Promis die Fettpolsterung unter den Wangen entfernen lassen, um ihre Wangenknochen zu betonen. Die Trend-Mühle beginnt von Neuem. Wieder warnen Schönheitschirurgen davor, dass dieser Eingriff riskant und nicht rückgängig zu machen ist. Dass es keine Langzeiterfahrungen dazu gibt und die Prozedur möglicherweise zu einer frühen Alterung des Gesichts führt. 

Feministen kritisieren den steigenden Druck, besonders auf Frauen, alle Trends mitzumachen, alles für alle zu sein. Umgekehrt argumentieren andere, dass die Entscheidung, sich verändern zu wollen, Frauen bestärken soll: My body, my choice. Und zudem: Werden Botox und Co. zum Statussymbol? Spritzen und Schneiden am eigenen Leib wird, wie die Zahlen und der breite Diskurs nahelegen, immer normaler. Schönheits-Filter, soziale Isolation, einseitige Algorithmen und zweidimensionale Gesprächspartner machen uns angreifbar, um immer neue Standards zu akzeptieren, Makel neu zu definieren und auszuräumen. Bald geht auch der Schlankheits-Trend wieder vorbei – und dann bezahlen wieder alle für Fett.

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