Mir nicht“ – mit diesen Worten unterbrach Theodor W. Adorno 1969 im „Spiegel“-Gespräch die Feststellung beziehungsweise den ersten Satz des Interviewers, dass ihm – also dem Befrager – die Welt vor zwei Wochen noch in Ordnung schien. Zuvor hatten drei Studentinnen im Hörsaal VI der Frankfurter Universität das berüchtigte „Busenattentat“ auf den Philosophieprofessor verübt.
Der Interviewer hatte sich erkennbar bemüht, Adorno als Zauberlehrling darzustellen, der die Geister, die seine Theorie gerufen hatte, nicht mehr loswürde. Doch Adorno erkannte in den linken Studentenprotesten seiner Zeit nicht nur die Wiederkehr des totalitären Zwanges, „sich auszuliefern, mitzumachen“, dem er sich seit seiner Jugend verwehrt hatte, sondern auch den Vorrang propagandistischer Tat und Taktik vor jeglicher Form von Diskussion. Die Theorie, so Adorno, würde in diesen Verhältnissen „einer praktischen Vorzensur unterworfen“ – man habe ihm verbieten wollen, „einfache Dinge auszusprechen, die den illusionären Charakter vieler politischer Zielsetzungen bestimmter Studenten“ zeigten. Die Losung „Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man? besser machen soll“ sei ihm ein „bürgerliches Vorurteil“.
Es gibt ein Bedürfnis nach Positivnachrichten
Eine Ansicht, die eine Mehrheit von Fernsehzuschauern anscheinend nicht gewillt ist, mit dem Vordenker der Frankfurter Schule und Kritiker einer technokratisch-kollektivistisch ausgestalteten „instrumentellen Vernunft“ zu teilen: Denn inzwischen beobachten Forscher und Journalisten eine zunehmende Abwendung des Publikums von Nachrichten, da dieses sich im Dauerfeuer der Krisen und Konflikte „allein gelassen“ fühlt – die Forschung sprach hier schon in den 1970er-Jahren von „gelernter Hilflosigkeit“. In einer Forsa-Umfrage für „RTL Aktuell“ gab fast die Hälfte der Befragten an, dass die Fernsehnachrichten zu problembeladen seien, während sich 80 Prozent wünschten, dass nicht nur über Probleme, sondern auch über Lösungsansätze berichtet würde. Wer das ändern will, betreibe „konstruktiven“ Journalismus. „Welt“-Chefreporterin Anna Schneider warf jedoch eben diesem Konstruktivjournalismus kürzlich eine „Erziehung des Lesers zur Unmündigkeit“ vor, hinter der die „Idee vom Leser als hilfsbedürftige(m) Wesen“ stünde.
Zunächst aber geht es bei dem Begriff des „Konstruktiven Journalismus“, den der dänische Journalist Ulrik Haagerup einführte, aber vor allem darum, den von Forschern prognostizierten „Negativitätsbias“ medialer Berichterstattung auszugleichen. In der Praxis werden dafür oft „Positivnachrichten“ vermeldet: Der Pionier unter den Konstruktivjournalismus-Portalen, „Perspective Daily“, bringt fünf gute Nachrichten pro Woche. Die handeln zum Bespiel von der Rückkehr der zwischenzeitlich fast verschwundenen Kegelrobbe an die Küsten des Vereinigten Königreichs; von einer Studie, die die Effizienz der 4-Tage-Woche beweist oder von einer vorsichtigen Annäherung zwischen Armenien und der Türkei – in Form einer erstmaligen Grenzöffnung infolge des jüngsten Erdbebens.
Dennoch will das Online-Magazin, das zahlreiche große Medienhäuser zur Nachahmung anregte, mit „Wohlfühl-Nachrichten“ nichts zu tun haben, sondern unterstreicht, dass „Journalismus etwas bewegen kann, wenn er sowohl Probleme erklärt als auch positive Entwicklungen und Möglichkeiten vorstellt“.
Welchen Journalismus brauchen wir wirklich?
In der Tat haben Studien gezeigt, dass Texte, die verschiedene Lösungen diskutieren, positive Emotionen sowie Interesse erzeugen und die Handlungsbereitschaft steigern würden. Mit anderen Worten: Der Konstruktive Journalismus erweitert die journalistischen „W-Fragen“ um ein „Was weiter?“
Klaus Meier, Professor für Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, stellte dieses neue „Berichterstattungsmuster“ mit Methoden der empirischen Forschung schon 2018 auf den Prüfstand. Sein Ergebnis: Die Wirkung des Konstruktivjournalismus müsse „differenziert“ betrachtet werden – und Schlussfolgerungen könnten nur vorsichtig gezogen werden. Zwar würden sich Leser nach einem konstruktiven Beitrag „emotional, fröhlich und zum Teil auch weniger deprimiert, aber nicht besser informiert“ fühlen. Auch ihr Interesse am dargestellten Thema wachse nicht. Die Leser würden, so Meier, nicht automatisch einen Lösungsansatz in einem Beitrag vermissen, sondern vielmehr eine „runde“ Beschreibung des Problems erwarten. Außerdem würden Leser sensibel auf versteckte Werbung oder PR reagieren – ein weit verbreiteter Vorwurf gegenüber dem konstruktiven Journalismus, nicht zuletzt weil „Lösungsansätze“ oft von NGOs oder Lobbygruppen kommen.
Dafür würden konstruktive Beiträge eher in sozialen Medien geteilt werden. Eine erhöhte Handlungsbereitschaft konnte Meier hingegen nicht nachweisen. Dennoch rät er Redaktionen dazu, Konstruktiven Journalismus in die eigene Arbeit zu integrieren – wenn dies auch mehr Ressourcen und Zeit brauche und nicht auf Kosten differenzierter Problembetrachtung oder journalistischer Distanz zu vermeintlich positiven Nachrichten geschehen dürfe.
Journalismus steht heute unter Zugzwang
Andere Kommunikationswissenschaftler sahen in den genannten Aspekten – anders als Meier – wiederum große Unterschiede zu „klassischem“ Journalismus. Als Konsens gilt, dass die Forschung zu diesem vielversprechenden Thema noch in Kinderschuhen steckt. Forscher, die die Einführung konstruktiver Berichterstattung bei der Verlagsgruppe Rhein-Main begleiteten, folgerten immerhin, dass diese durchaus in den redaktionellen Arbeitsalltag integrierbar sei, wenn dafür nötige Veränderungsprozesse gut geführt würden.
Adorno, der gerade den Massenmedien und der „Kulturindustrie“ die Verblendung des modernen Menschen unterstellte, hätte an Lösungswegen orientierten Journalismus wohl kaum begrüßt. Doch dem Konstruktivjournalismus pauschal Leserbevormundung vorzuwerfen, greift – trotz nicht unbegründeten Verdachts – zu kurz. Denn der Journalismus steht heute unter Zugzwang: Einerseits nehmen ihm Big-Tech-Unternehmen seine Rolle als den Informationsfluss regulierenden „Torwächter“. Andererseits wird er zur „vierten Gewalt“ stilisiert, der prinzipiellen Falschheit beschuldigt oder aber zu „Haltung“ und „Framing“ instruiert – während gute Finanzierungsmodelle noch gesucht werden.
Hinter der Frage nach dem Konstruktivjournalismus steht also die wesentlich wichtigere Frage, welche Rolle der Journalismus in unserer Gesellschaft spielen soll. Und diese Frage richtet sich vor allem an die Medienmacher, nicht an die Konsumenten.
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