Welt im Wandel

Wenn alles sich wandelt, was bleibt?

Die Welt ist in Bewegung. Die Gesellschaft steht vor neuen Herausforderungen. Was können Christen in dieser Wendezeit zum Guten beitragen? Die Vergangenheit liefert Hinweise.
Ausstellung in Trier
Foto: Barbara Stühlmeyer | Bei der Ausstellung zum Untergang des römischen Reiches des Rheinischen Landesmuseums in Trier zeigen einige Artefakte: Das Christentum hat eine nachhaltige Kraft.

Als Edward Gibbon im Jahr 1776 sein sechsbändiges Werk über die Geschichte des Niedergangs des Römischen Reiches herausbrachte, war eins für den britischen Historiker sonnenklar. Schuld am Untergang "Roms", wie man damals wie heute das Reich mit Blick auf die Weltstadt auf den Punkt bringt, waren die Christen. Zwei ganze Kapitel widmet er dem Thema und führt darin en detail aus, dass die Perspektive der Ewigkeit, die den Lebensweg jedes Christen prägt und erhellt, eine ausgeprägte Untüchtigkeit in weltlichen Angelegenheiten zur Folge hatte und verhöhnte Mönche und Nonnen als abergläubische Kreaturen, deren scheinbare Friedfertigkeit eine Folge ihrer Verweichlichung sei.

„Deutlich wichtiger als die Frage nach der Macht ist die nach dem Dienst
und der zielführenden geistlichen Grundhaltung“

Die von der Kirche geschmähten Heiden hingegen stellte er als kraftvolle, männliche Naturburschen mit einem Hang zu höherer Bildung dar. Dass sie und mit ihnen das gesamte Römische Reiche ungeachtet dieser glorreichen Fähigkeiten den verachtenswerten christlichen Kreaturen zum Opfer fiel, ist ein inhärenter Widerspruch der These, die schon die Zeitgenossen Gibbbons zum Widerspruch reizten und mutmaßen ließ, er habe selbst einen Hang zu den alten Göttern. 

Aber ungeachtet der hochemotional geführten Debatte sind es in diesem Fall die nüchternen Fakten, die das Thesengebäude Gibbons ebenso zu Fall bringen, wie das von ihm so ausführlich beschriebene Reich. Wer dessen Dekonstruktion in den Jahrhunderten der Spätantike verfolgt, stellt schnell fest, dass die Christen tatsächlich in vielen Bereichen eine stabilisierende Rolle spielten. Grund für die Tatsache, dass es in zahlreichen Städten Bischöfe waren, die die Verantwortung für die Versorgung der Bürger mit Nahrungsmitteln, die Verbesserung der medizinischen Situation oder auch die Verteidigung übernahmen, war die enge Vernetzung der Christen untereinander. Sie geht im Kern auf das Netzwerk der jüdischen Gemeinden zurück, das parallel zu dem der Christen das ganze Mittelalter hindurch intakt war und ähnliche Strukturen aufwies. 

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Hospitalität der Christen fundiert auf Netzwerken jüdischer Gemeinden

Wenn Juden im Römischen Reich, beispielsweise als Händler, auf Reisen gingen, konnten sie sich darauf verlassen, überall dort, wo sie hinkamen und eine jüdische Gemeinde bestand, gastfreundlich aufgenommen zu werden. Auf diese Struktur der Hospitalität griff auch der Apostel Paulus auf seinen Predigtreisen zurück. Erst wenn seine Verkündigung auf Widerstand stieß, verließ er das vertraute Umfeld. Dort, wo sich christliche Gemeinden bildeten, knüpften sie, auf die gute Erfahrung aufbauend, ähnliche Netzwerke. Christen, die sich von einem Ort zum anderen bewegten, kamen bei Schwestern und Brüdern im Glauben unter.

Im Mittelalter bildete sich ein Netz von Hospizen, die jedem Pilger für eine Nacht kostenlos Unterkunft und Verpflegung boten und im Krankheitsfall auch die Versorgung übernahmen. Und die Verbundenheit der einzelnen Ortsbischöfe mit dem Papst in Rom bildete einen weiteren stabilisierenden Faktor, der umso wichtiger wurde, als die bisherigen Strukturen des Reiches nach und nach zerfielen und die vormals gut funktionierenden Kommunikationswege brüchig wurden. Globales Handeln war, je mehr sich die Spätantike dem Mittelalter näherte, nicht mehr auf Reichs-, wohl aber auf kirchlicher Ebene möglich. 

Die Kirche als verbindende Kraft des Reiches

Und es ist kein Zufall, dass Karl der Große bei der Einigung seines nicht gerade kleinen Reiches vor allem auf die Kirche als verbindende Kraft setzte. Damit deren Wirken sich ungehindert entfalten konnte, stieß der später heiliggesprochen Kaiser zwei maßgebliche Reformprojekte an. Das erste und wichtigste war die Liturgiereform. Karl der Große war überzeugt davon, dass eine einheitliche Feier der Liturgie nach standardisierten Formularen wesentlich dazu beitragen würde, die Menschen vieler Rassen Sprachen, Schichten und Gruppen in seinem Reich zusammenzuführen. Die lateinische Sprache des Ritus war dabei ein zusätzliches Bindeglied.

Sie musste nicht verstanden werden, um im rituellen Vollzug rituell vertraut zu wirken und ein natürliches Sich-Einschwingen in das Geheimnis des Glaubens auszulösen. Sein zweites Reformprojekt betraf die Bildung. Deren Stand war erbärmlich, auch unter den Priestern, von denen viele sich mit dem Glauben nicht mehr genug auskannten, um ihn qualifiziert zu verkündigen. Deshalb forderte er vor allem von den Priestern und Bischöfen, ihre Kenntnisse auf Vordermann zu bringen, und er setzte sich, um den anderen ein Vorbild zu sein, selbst auf die Schulbank, um von den hochgebildeten Klerikern um Alkuin von York an der Aachener Hofschule zu lernen. Den Beginn machte er mit dem ABC, denn der bildungshungrige Kaiser konnte weder lesen noch schreiben.

Verbundenheit ist Grundlage der Kommunikation weltweit

Diese Einblicke in die Geschichte von Kirche und Gesellschaft zugrunde gelegt, stellt sich die Frage, welche Rolle die Christen als Einzelne und die Kirche insgesamt in der gegenwärtigen Lage spielen können. Nimmt man die werterhaltende, stabilisierende und die einende Funktion zum Vorbild, die die Kirche in der Spätantike und im Mittelalter wahrnahm, lässt sich folgern, dass vor allem folgende Punkte wichtig sein könnten: Zum einen ist es für die katholische Kirche und ihre performative Strahlkraft maßgeblich, in guter, lebendiger Verbindung mit der Weltkirche und dem Papst zu sein. Diese Verbundenheit im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes ist die Grundlage guter Kommunikation.

Sie steht an erster Stelle und wirkt strukturbildend auf die anderen beiden Aspekte der Tria Munera, der drei Grundaspekte im Wirken der Kirche. Diese, die Liturgie, der Dienst am Nächsten und das Lebenszeugnis bilden eine Einheit, deren Gipfel und Quelle notwendig die Liturgie ist. Denn das Gebet, die lebendige Verbundenheit mit Jesus Christus, prägt den Glauben, der nicht in Debatten, an runden oder eckigen Tischen ausdiskutierbar, sondern ein Geschenk ist und sich in der Bezogenheit des je Einzelnen und der Gemeinde als Ganze auf Jesus als den Gekreuzigten vollzieht.

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Aus funktionierender Kommunikation erwächst natürlich der Dienst am Nächsten

Diese Verbindung als lebendig und performativ wahrzunehmen, ist zwingend notwendig, weil sie wirklich und im Hinblick auf die Endlichkeit des irdischen Lebens allein zielführend ist. Wenn diese Gemeinschaft im Glauben funktioniert, stellt sie auch den Fluss einer guten Kommunikation sicher, aus der der Dienst am Nächsten ganz natürlich folgt. Denn eine auf Gott bezogene Gemeinschaft verfügt über ein außerhalb ihrer selbst angesiedeltes Korrektiv. Wenn alle gemeinsam auf das Wort Gottes hören, geht es auch im Falle einer sich ergebenden Auseinandersetzung in Einzelfragen nicht mehr in erster Linie darum, wer recht hat. 

Deshalb ist das, was Karl der Große in seiner Liturgie- und Bildungsreform anstieß, auch heute existentiell. Deutlich wichtiger als die Frage nach der Macht ist die nach dem Dienst und der zielführenden geistlichen Grundhaltung. Eine Konzentration auf eine würdige, bewusste und in Kenntnis der Tiefenwirkung von Ritualen gefeierte Liturgie kann sich als wirksam zentrierendes Mittel in einer Situation erweisen, in der es kaum noch Sicherheiten in wesentlichen ethischen Grundfragen zu geben scheint. Diese Unsicherheiten, die Unschärfen in der Wahrnehmung dessen, was richtig und erlaubt ist, wie sie sich beispielsweise in der Frage der Abtreibung, der Sterbehilfe, der Empfängnisverhütung oder der vorehelichen Intimität auch in Kirchenkreisen zeigen, im Einzelnen oder bei jedem Einzelnen zu korrigieren, ist aussichtslos. 

Wie kann eine Neuorientierung gelingen?

Eine Neuorientierung kann nur aus der Mitte des erneuerten liturgischen Lebens erfolgen. Hierbei geht es um eine Feierform, die nicht gestaltet werden muss, sondern als geschuldeter Dienst und zugleich als geschenkter Wachstumsraum im Glauben wahrgenommen wird. 

Ein weiterer Grundpfeiler ist ein solides Glaubenswissen. Denn manch eine der derzeit geführten Debatten wäre schnell zu Ende, wenn die Beteiligten grundlegende Kenntnisse über ihren Glauben hätten, ihn in all seinen Facetten und Wirkweisen verstünden und unterscheiden könnten, was essenziell und was austauschbar ist. Ohne diese Gabe der Unterscheidung und das notwendige Wissen bleiben Debatten an der Oberfläche und erreichen deshalb letztlich weder Herz noch Verstand. Die aber sind beide gleichermaßen beteiligt, wenn es darum geht, den Wandel aus dem zu gestalten, was bleibt. 

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