Woke Kultur

Vorurteile haben auch ihr Gutes

Unser gesellschaftliches Leben scheint aus den Fugen: Fortschrittliche Fliehkräfte zerlegen, was uns vertraut ist. Gegen unfrohe Ideologen und Weltuntergeher hilft nur ein heiterer Pragmatismus.
Fragmentation der Sprache
Foto: (331731779) | Nicht mal die politisch Korrekten können ohne Vorurteile existieren. Peter Sloterdijk dazu: „Heute erleben wir die paradoxe Situation, dass das Vorurteil schon wahrheitsgestaltig daherkommt, zumeist als ...

Der große Psychiater Viktor E. Frankl (1905 bis 1997) stellte fest: „Jede Zeit hat ihre Neurose und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie.“ Was die gegenwärtigen Zeitläufte an heilenden Maßnahmen bedarf, brütet noch im Dunkeln, umso deutlicher wuchern vor unseren Augen die Verwerfungen, die jeden wachen Zeitgenossen mit Unbehagen erfüllen.
Beinahe täglich betreten Politiker, Aktivisten und Meinungsregisseure die Bühne, um dem staunenden Publikum eine weitere Gewissheit zu rauben, die im Leben der Menschen bislang ihre selbstverständliche Gültigkeit hatte. Was bis vor kurzem allenfalls zu einem satirischen Sketch taugte, wird uns heute als neues Glaubensbekenntnis zugemutet. Es ist, als sollte die alte Welt abgeräumt werden   ein ideologischer Angriff der Gegenwart auf die zurückliegende Zeit.

„Geschlechtergerechtigkeit“ in der Sprache

Da behauptet etwa der grüne Bundestagsabgeordnete Markus Ganserer (45): „Aber ein Penis ist nun mal nicht per se ein männliches Genital. Es gibt halt auch Frauen, die einen Penis haben. Und es gibt Männer, die können ein Kind gebären. Und das ist unser gutes Recht.“ Dieser biologische Mann nennt sich seit 2019 Tessa Ganserer, trägt Frauenkleider und Perücke, und zog über die bayerische Landesliste in den Bundestag ein.

Als im Juli vergangenen Jahres die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht der Berliner Humboldt-Universität ebendort einen Vortrag vor Laienpublikum zum Thema „Warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“, protestierte ein „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ dagegen, weil die Aussage, es gebe in der Biologie nur zwei Geschlechter, unwissenschaftlich sowie „menschenverachtend und queer- und transfeindlich“ sei. Da die Universität Tumulte befürchtete, wurde der Vortrag abgesagt. Vollbrecht wurde im Netz mit Shitstorms überzogen und musste sich monatelang mit Trans-Lobbyverbänden vor Gericht herumschlagen.

Im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk wird mündlich mit Schluckauf-Pause gegendert, in immer mehr Behörden, Institutionen und Großkonzernen geschieht dies schriftlich mit Gendersternchen, Genderdoppelpunkt oder Genderunterstrich. Bereits 2018 empfahl die damalige Bundesjustizministerin Barley die Aufnahme des Gendersternchen in den Duden, um „unseren Blick auf andere Formen von Identität und Lebensweisen zu entspannen. Die Politik muss die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen berücksichtigen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen“. Die Hauptstadtgazette „B.Z.“ titelte: „Berlin gendert Schulzeugnisse. Senat streicht ,sie  und ,er  in den Formularen. Lehrer sollen bei Anrede auf Wünsche der Schüler eingehen.“

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung will kein Gendern. Im vergangenen August lehnten es laut INSA-Umfrage 74 Prozent ab, dass sich die deutsche Sprache im Sinne einer „Geschlechtergerechtigkeit“ verändern sollte. Dass Gendern als autoritär aufgezwungene Modesprache zu gelten hat, wird im akademischen Bereich augenfällig, wenn dort schriftliche Arbeiten schlechter benotet werden, weil sie nicht gegendert sind. Ich kenne eine junge Studentin, die diese Herrschaftsform als einen Umgang auf Augenhöhe mit den Professoren bezeichnet. Ich spreche lieber von einem Stockholm-Syndrom.

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Wokeness-getriebene Meinungshegemonie

Nachdem es in der Silvesternacht in mehreren Großstädten im Bundesgebiet gewalttätige Ausschreitungen gegen Polizisten, Feuerwehr- und Rettungsleute gegeben hat, taten sich Medien wie Politiker erst mal schwer, die Täter beim Namen zu nennen. Einsatzkräfte vor Ort beobachteten „Jugendliche   ich würde sagen   im Alter zwischen 16 und vielleicht 25, größtenteils mit Migrationshintergrund“ (Berliner Feuerwehr) und „optisch haben wir einen Schwerpunkt mit Migrationshintergrund, zumindest äußerlich, dort festgestellt“ (Essener Polizei).

In der „Tagesschau“ hingegen antwortete ein „ARD“-Reporter in Berlin auf die Frage nach den Tätern wie in einem Monty Python-Sketch. Er stammelte etwas von gruppendynamischen Prozessen, von einem gesamtgesellschaftlichen Druck nach zwei Jahren Pandemie, dass man an Pyrotechnik so leicht herankommt und gab zu: „Von den Tätern zu sprechen ist in solchen Kontexten immer ein bisschen schwierig.“ Das Scheitern der Integration von Migranten, so kam es beim Zuschauer an, soll nicht öffentlich ausgesprochen werden   wie schon nach der Silvesternacht 2015/16 auf der Kölner Domplatte.

In seltsamer Einträchtigkeit hat eine wokeness-getriebene Meinungshegemonie dieses Land überzogen. In den Merkel-Jahren haben die Lobby-Gruppen mit den Geschäftsmodellen Anti-Rassismus, Anti-Sexismus, Feminismus, Queer- und Transsexualität Morgenluft gewittert und Fahrt aufgenommen. Unter der Schirmherrschaft der Ampel-Regierung scheint nun keine Eskalationsstufe mehr undenkbar. Ein geplantes Selbstbestimmungsgesetz soll sogar 14-Jährigen ermöglichen, ohne Zustimmung der Eltern ihr Geschlecht zu wechseln. Die bislang ohnehin knirschende Energiewende droht durch das Embargo russischen Gases und Öls in einem Scherbenhaufen zu enden. Deutschlands Außen- und Wirtschaftspolitik zeigt sich durch den Ukraine-Krieg heillos überfordert. Sogar die der Regierung eher nahestehende DGB-Chefin Fahimi zeigt sich alarmiert. Im Sommer hatte sie der Regierung in Sachen Klimapolitik die Leviten gelesen und vor „ökonomischem Selbstmord“ gewarnt. Zum Jahresende warnte sie angesichts von Energieknappheit und Inflation vor einer De-Industrialisierung der Wirtschaft: „Es ist wirklich nach wie vor existenzbedrohend, was sich derzeit in der Industrie abspielt.“

Abschied aus Deutschland

Dieses Land ist dabei, zunehmend an Maß und Mitte zu verlieren. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen Deutschland verlassen. Knapp eine Million Menschen wanderten 2021 aus, rund 1,3 Millionen wanderten ein. Einer der Auswanderer ist der Schriftsteller Matthias Politycki, den es aus Hamburg nach Wien verschlagen hat. „Mittlerweile kenne ich erschreckend viele Leute, die aus Deutschland weg wollen“, sagt der 67-Jährige. Das gehe „quer durch alle Branchen und Altersschichten“. Er selber hat über seinen Weggang ein Buch geschrieben: „Mein Abschied von Deutschland“ (Hoffmann und Campe). Darin beschreibt er die Verengung der Phantasie und den Verlust des „wilden Denkens“ hierzulande. „Fast keines meiner Bücher kommt mehr ohne Schwärzung in den Handel“, verrät Politycki.

In seinem Buch zitiert er aus George Orwells Dystopie „1984“, in der es um die Steuerung des Menschen durch Verringerung seines Sprachschatzes geht. „Siehst du denn nicht“, lässt Orwell seine Figur sagen, „dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen?“ Orwells düsterer Zukunftsklassiker erschien 1949, inmitten eines Jahrhunderts des Totalitarismus, das die Menschenmanipulation zunehmend verfeinerte.

Bereits 1932 beschrieb Aldous Huxley in seiner grimmigen Vision „Schöne neue Welt“ das Verfügbarmachen des menschlichen Geistes durch ideologische Infiltration: „Bis endlich der Geist des Kindes aus lauter Einflüsterungen besteht und die Summe der dieser Einflüsterungen selbst der Geist des Kindes ist. Und nicht nur der des Kindes, auch des Erwachsenen   auf Lebenszeit.“ Mitten im Zweiten Weltkrieg sah auch der irische Literaturwissenschaftler Clive Staples Lewis die wachsende Vernutzung der menschlichen Natur als Fluch der Neuzeit und veröffentlichte 1943 eine Philippika wider „Die Abschaffung des Menschen“.

Was wir heute erleben, ist also keineswegs neu, sondern ein wiederkehrendes machtpolitisches Muster, das sich bloß in immer neuen Varianten manifestiert. Denn was ist totalitärer, als eine ganze Gesellschaft klimapolitisch, feministisch, antisexistisch oder antidiskriminierend umzudressieren, ihre Geschichte postkolonial umzuformulieren und die Offenheit der Zukunft mit der eigenen Wahrheitsraserei zu verriegeln?
Um uns dieser Selbstgerechtigkeit zu entledigen, können wir, so Politycki, vom Wiener einiges lernen: „Was in Österreich altmodischer wirkt, scheint mir in Wirklichkeit noch intakter zu sein als in Deutschland; zumindest kann man sich die Probleme nicht so leicht gemeinsam schönreden.“ Davor feite den Wiener seine „große Fähigkeit“ zur „Satzverschachtelung“, wie Politicky bewundernd beschreibt. Denn „wer komplexer formuliert, hat auch komplexer gedacht. Er lebt in Widersprüchen und wird einem Gesprächspartner mehr zubilligen, als wenn er eine scheinbar konhärente Position vertritt. Im Wienerischen wird s schnell komplex bis zum Undurchschaubaren.“

Ein solcher Umgang mit Sprache, in dem noch eine subtile Anarchie aus Tagen des Habsburgreichs spürbar ist, hat uns immer wieder Gipfelerlebnisse wienerischer Komik beschert und wirkt wie Salpeter gegen jedwede begriffliche Pedanterie. „Es hat dann nicht mehr diesen moralweltmeisterlichen Furor“, unter dem Politicky in Deutschland gelitten hat.
Unsere Versessenheit, die Tugendhaftesten zu sein, nach deren Vorbild die Welt genesen solle, drückt sich in unserer phrasenstarren Alltagssprache aus. Im vergangenen Sommer kam Winnetou, Held und Sehnsuchtsadresse in unseren Kindertagen, in Verruf, weil seine Darstellung nicht dem Wasserstand der aktuellen politischen Korrektheit entspräche. Eingeborene Amerikaner, die sich selbst Indians, also Indianer nennen, könnten sich beleidigt fühlen. Karl Mays Winnetou geriet unter Verdacht, Vorurteile zu schüren.

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Keine politisch Korrekten ohne Vorurteile

Seltsamerweise haben Vorurteile einen schlechten Ruf. Das Vorurteil ist der hermeneutische Nazi, beide werden in den zeitgenössischen Schimpfarenen ähnlich häufig genannt. Dabei sind Vorurteile nicht nur nützlich, sondern notwendig. In seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ schreibt der Philosoph Hans-Georg Gadamer: „Dies grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung.“ Jeder Mensch geht an die Dinge des Lebens mit einer Vorprägung heran, seine Lebenserfahrung, das erlernte Wissen, die Sitten und Gebräuche. All das gerinnt in jedem Moment zu unserem Vor-Urteil. Ohne diese Prädispositionen bliebe jeder Erwachsene auf dem Entwicklungsstand eines Neugeborenen. Wir wären lebensunfähig.

Nicht mal die politisch Korrekten können ohne Vorurteile existieren. Peter Sloterdijk dazu: „Heute erleben wir die paradoxe Situation, dass das Vorurteil schon wahrheitsgestaltig daherkommt, zumeist als linksliberaler aufgeklärter Konsensus. Das Vorurteil ist zur Heimat des Wahrheitsbesitzes geworden, es kommt schon im Gewand der Kritik. Damit entfällt die Notwendigkeit, etwas hinzuzulernen.“
Während das Vorurteil für den einen der Weisheit letzter Schluss ist, kann es für den anderen ein Sprungbrett zur Selbstüberprüfung sein. Scheinbare Eindeutigkeiten können eben auch ein Fluch sein. Die spielerisch funkelnde Sprachpracht und Gewitztheit der Wiener könnten uns ein Beispiel sein, um die Wirklichkeit in ihren widersprüchlichen Komplexitäten zu würdigen. Solche Menschen nennen wir Pragmatiker.

 

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