Am Einhorn kommt niemand vorbei. Es begegnet uns auf Gemälden, Wandteppichen, Skulpturen und Plakaten; heutzutage auch als Emoji, auf Schulranzen und in Kinderzimmern, rosaglitzernd und funkelnd, direkt aus dem Kitschparadies. Welche jahrtausendealte Geschichte sich aber hinter der bis heute ungebrochenen Faszination des Fabelwesens verbirgt, dem versucht das Museum Barberini mit seiner aktuellen Ausstellung auf die Spur zu kommen.
Rund 150 Werke und Objekte aus etwa 4.000 Jahren präsentiert das Museum, darunter Arbeiten von Albrecht Dürer, Arnold Böcklin, Hans Baldung Grien, René Magritte und Rebecca Horn. Über 80 Leihgeber aus 16 Ländern haben sich beteiligt und ihre oft selten bis gar nicht ausgeliehenen Kunstwerke hergegeben; die Liste ist beeindruckend und spricht für das Vertrauen, das dem Kurator Michael Philipp entgegengebracht wurde.
Wanderung durch die Welt
In neun Sälen entfaltet sich der Mythos des magischen Tieres, nach Themen und der ihm zugeschriebenen Bedeutung gegliedert. Zuerst erschienen ist es in Indien, der älteste Nachweis besteht in einem winzigen Einhorn-Siegel aus der Indus-Kultur (ca. 2.000 v. Chr.), dessen Bedeutung noch nicht entschlüsselt wurde. Von dort wanderte es in verschiedener Gestalt durch die asiatische Welt (die zierliche Plastik eines tibetischen, gazellenartigen Einhorns aus dem 18. Jahrhundert stammt aus einem buddhistischen Kloster), bis es im 2./3. Jahrhundert nach Europa gelangte, zuerst durch die frühchristliche Naturlehre „Physiologus“, die sich der allegorischen Deutung von Tieren, Pflanzen und Steinen des christlichen Heilsgeschehens widmete; hier wird das Einhorn zu einer Allegorie des zentralen christlichen Mysteriums der Menschwerdung Gottes erhoben. Zunächst als Ziege dargestellt, bekam das Einhorn ab 1500 seine bis heute vertraute pferdeähnliche Gestalt.
In unterschiedlichen Zeiten und Weltregionen symbolisierte es Kampfgeist, Freiheit und Unbezähmbarkeit, es stand für Reinheit und Unschuld, galt als Zeichen der Keuschheit und als Symbol für Christus. Seinem Horn wurden medizinische Heilkräfte nachgesagt; noch heute findet man „Einhorn-Apotheken“.
Auch Luther kannte Einhörner
Der christlichen Symbolik des Einhorns wird auch in der Ausstellung eine herausragende Bedeutung zugemessen, viele der dort präsentierten Gemälde und Tapisserien belegen die magische Existenz des Tieres, an der bis ins 17. Jahrhundert kein Zweifel bestand. In der Bibel erscheint neben Wolf, Lamm und Löwe ein wildes Tier, das auf Hebräisch „re’em“ genannt und später mit „monokeros“ (Einhorn oder auch Nashorn) übersetzt wurde. So heißt es in der Luther-Übersetzung von 1912 in Psalm 22,21 noch: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern“. In der Lutherbibel von 2017 wurden die „Einhörner“ dann durch „Wildstiere“ ersetzt.
Die mittelalterlichen Maler nahmen die Fabelwesen in ihre biblischen Darstellungen mit auf, so in die Schöpfungsgeschichte („Die Erschaffung der Menschen und Tiere“ von Hans Baldung Grien, ca. 1533), es taucht im Paradies auf und in der Sintflut, wie in den beiden Gemälden von Kaspar Memberger d. Ä. aus dem Jahr 1588: Beim „Einzug in die Arche Noahs“ sieht man ein einzelnes Einhorn, das es dann wohl irgendwie auf die Arche geschafft hat, denn beim „Auszug aus der Arche Noahs“ gehen wundersamerweise zwei Einhörner von Bord.
Es erscheint daneben in christlichen Legenden wie der Versuchung des heiligen Antonius und dem Tod des heiligen Stephanus, auch hierzu finden sich Darstellungen im Barberini.
Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen
Wichtigster Aspekt der mittelalterlichen christlichen Darstellung des Einhorns ist aber zweifellos die Allegorie der jungfräulichen Empfängnis. Das Einhorn konnte nur im Schoß einer Jungfrau gefangen werden, wie verschiedene Bilder (durchaus mit unterschwellig erotischer Anmutung) belegen. Auf Altargemälden wird Maria mit dem Fabeltier dargestellt, hier verkörpert das Einhorn Christus. Die vielschichtige Symbolik des wunderschönen Andachtsbildes „Mariä Verkündigung in der Allegorie der Einhorn-Jagd“ aus der Hohen Domkirche zu Erfurt, entstanden in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, führt tief hinein in das Labyrinth der Deutungsmöglichkeiten.
Im 20. Jahrhundert nahmen sich vermehrt Künstlerinnen des Fabelwesens an, es diente der Hinterfragung von Geschlechterrollen, z. B. bei Rebecca Horn oder Angela Hampel – das Tier ist geduldig und bietet eine weite Projektionsfläche für künstlerische Fantasien, seien sie nun sakraler, ironischer oder surrealer Natur, wie bei René Magrittes „Der Meteor“ von 1964, das ein menschlich anmutendes Einhorn-Porträt mit anmutig in Wellen gelegter Haarpracht vor einem geöffneten roten Samtvorhang mit Ausblick auf einen düsteren Laubwald zeigt. Das Horn besteht hier in einem auf dem Haupt platzierten Turm, und man darf rätseln, was sich wohl dahinter verbirgt.
Die sechs Jahre währende Vorbereitungszeit hat eine grandiose Ausstellung hervorgebracht, die nicht nur den facettenreichen Hintergrund eines Wesens auffächert, das es real nie gegeben hat, sondern vor allem eines deutlich macht: In einer von Rationalismus dominierten Welt braucht es das Einhorn. „Sein Refugium ist die künstlerische Fantasie.“
Die zusammen mit dem Pariser Musée de Cluny entstandene Ausstellung ist bis zum 1. Februar 2026 im Museum Barberini in Potsdam zu sehen, im Anschluss vom 13. März bis zum 12. Juli 2026 im Musée de Cluny in Paris. Der Katalog kostet 45,00 Euro im Museum.
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