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Vom Ende und Anfang der Gemütlichkeit

Führende Ökonomen plädieren für einen ganzheitlichen Kurswechsel, der auch das Bild von Arbeit und Freizeit verändern könnte. Der Wert echter Gemütlichkeit rückt wieder ins Bewusstsein.
Katherina Reiche (52), Wirtschaftsministerin unter Bundeskanzler Friedrich Merz
Foto: IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler (www.imago-images.de) | Es könnte ungemütlich werden: Katherina Reiche (52), Wirtschaftsministerin unter Bundeskanzler Friedrich Merz, will den Deutschen einen harten Reformkurs verordnen.

Es scheint, als sei nun bei allen in Deutschland das Ende der Gemütlichkeit angekommen. „Seit Jahren stagniert die Wirtschaftsleistung, während vergleichbare Volkswirtschaften deutlich dynamischer wachsen.“ Deutschland steht vor immensen Herausforderungen: das befand jetzt in einem Gutachten ein Gremium führender Ökonomen, eingesetzt von der forschen Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche. Die 52-jährige Christdemokratin aus Luckenwalde im Teltow-Fläming-Kreis hatte sich bereits vor ihrer Berufung ins Kabinett als kommunale Verbands-Lobbyistin, Geschäftsführerin von WestEnergie und Vorsitzende des Deutschen Wasserstoffrats in Wirtschaftskreisen einen Namen gemacht.  Außerdem ist die dunkelhaarige Politikerin aktuelle Lebensgefährtin von Ex-Minister Karl-Theodor zu Guttenberg, der 53-jährige, katholische Familienvater wurde erst im April offiziell von Ehefrau Stephanie geschieden.

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Viele Beobachter vermuten hinter dem strategisch perfekt getimten Reiche-Vorstoß zum Teil auch zu Guttenberg und seine Ansichten. Der Reiche-Kreis ist aber auch ohne den adeligen Ökonomen reich an Expertise. Mitglieder des Gremiums sind die Wirtschaftswissenschaftler Prof. Justus Haucap (56, Uni Düsseldorf), Prof. Stefan Kolev (44, Ludwig-Erhard-Forum), Prof. Volker Wieland (59, IMFS Frankfurt) und die von Funk und vielen Fernsehauftritten bekannte Wirtschaftsweise Prof. Veronika Grimm (54, TU Nürnberg). Ihre gemeinsame Devise: Wenig Staat, viel Marktwirtschaft. Das klingt nicht nach Gemütlichkeit.

Geselliger Ausklang mit Pikkolöchen und Koks

Die Folgen des Gutachtens könnten tatsächlich ungemütlich werden: Arbeiten bis zum 73. Lebensjahr, Sozialleistungen werden der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst, die Rentensteigerungen gedeckelt. Alle müssen mehr und länger arbeiten, wer nicht arbeiten will, hat keinen Anspruch auf staatliche Leistungen. Haben es manche mit einer gemütlichen Arbeitsauffassung übertrieben? Dank Corona sind die die Grenzen zwischen Zuhause und Arbeit ziemlich verschwommen, war das zum Guten oder zum Schlechten?  Die Arbeitsplatz-Produktivität hierzulande stagniert jedenfalls seit 10 Jahren. Deutschland, früher Champion, liegt heute im unteren Bereich. Europäischer Spitzenreiter ist Polen mit einer schnell fortschreitenden Digitalisierung und hohem persönlichen Engagement der Beschäftigten, die eine leistungsfördernde Aufstiegsmentalität zeigen. Aber wie steht es tatsächlich um die angeblich zu gemütlichen deutschen Arbeitnehmer, die ihren Job nicht richtig ernst nehmen? 

Weil es deutschen Chefs immer schwerer fällt, die Mitarbeiter ins Büro zu locken und dort zu leistungsorientiertem Einsatz zu motivieren, gleichen Gemeinschaftsräume und Kantinen seit Jahren mehr und mehr kuscheligen Wohnzimmern oder grünen Gewächshäusern. Im stylischen Industrie-Loft mit Stahlträgern an der Decke stehen Chippendale-Sessel neben Couchtischen in Nussbaum, und im Esszimmer, ehemals Kantine, wächst ein Wald junger Birken wie einst im Mai. Die bekannte Interior-Designerin Dr. Katja Kessler verwaltet ein ganzes Lager mit Vintage-Möbeln. Diese setzt sie nach Bedarf ein, wenn wieder ein Auftrag zur Umsetzung ansteht. Für ihre mehrfach prämierten Einrichtungslösungen hat sie den Begriff „Vinterior“ geprägt. Mid-Century, auch mal mit Augenzwinkern und Gelsenkirchener Barock, bilden die Kulisse für die Arbeitgeber-Seelenmassage gestresster Gen-Z-Professionals. Im fahlen Licht von Wohnzimmer-Stehlampen aus der Adenauer-Zeit gilt das Motto: Etwas Warmes braucht der Mensch.

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In Berlin haben hippe Startups dazu innerbetriebliche Angebote aufgelegt, die neben dem eher niedrigen Grundgehalt persönliche Wertschätzung und allgemeine Willkommenskultur signalisieren sollen. Die Gläser mit Haribo sind immer frisch gefüllt, der Kaffeevollautomat röhrt röstaromatisch vor sich hin, am offenen Kühlschrank bedient sich die Crew mit Bionade und Club Mate. Mittags kommt der Lieferservice vom Asiaten oder Italiener.  Nach Dienstschluss darf es zum Entspannen auch ein Pikkolöchen sein oder ein Feierabend-Bier. Apple Music oder eine Spotify-Playlist liefert coolen Jazz zum Chillout.  Im Anschluss ein Barbesuch, für immer mehr gehört dann Koksen dazu, der Schlaf zuhause fällt extrem kurz aus.

Gemütlichkeit gehört in die eigenen vier Wände

Schnell wird bei Betrachtung eines solchen Arbeitsalltags klar: Der Versuch einer neuen Gemütlichkeit ist gescheitert. Durch die künstlich erzeugte Gemütlichkeit aus der Retorte nostalgischer Erinnerungs-Requisiten wurde vor allem die betriebswirtschaftliche Effizienz-Ausrichtung kaschiert. Diese Motivations-Strategie –sie ist ohne nachhaltige Wirkung entzaubert. Weder stieg die statistisch messbare Leistung am Arbeitsplatz (siehe Grafik), noch wurden die Mitarbeiter insgesamt zufriedener. Als sich ein PR-Unternehmen, auch wieder in Berlin, dazu entschloss, statt Fingernagel-Designer und Physiotherapeuten zur Abwechslung eine Wahrsagerin auf die Mitarbeiter loszulassen, kam es zum gefährlichen Psycho-Crash. Mehreren weiblichen Angestellten prophezeite die lokal prominente Karten- und Handleserin Pech in der Liebe, Stress in der Beziehung, ja sogar von bevorstehender Scheidung war die Rede. Es folgten Heulkrämpfe und Krankmeldungen, das gesamte Angebot des sogenannten „Employer-Branding“ oder „Wellbeing“ wurde erst einmal eingestampft.

Bei der Arbeitsproduktivität steht Deutschland nicht mehr auf einem Spitzenplatz.
Foto: Grafik KI-gestützt: Henry C. Brinker | Bei der Arbeitsproduktivität steht Deutschland nicht mehr auf einem Spitzenplatz.

Sollte der ökonomische Weckruf von Katharine Reiche und ihrem Gutachter-Gremium Erfolg haben und in eine neue Mentalität von Arbeit und Leistung umschlagen, dann könnte das für die echte, deutsche Gemütlichkeit einen Neustart bedeuten. Nach harter Arbeit in angemessener Umgebung müsste der verdiente Feierabend wieder nach Hause zurückkehren, im Idealfall zur Sammlung und inneren Betrachtung. Für den Heiligen Benedikt von Nursia, der als erster den Arbeitsalltag mit seiner Klosterregel „rhythmisierte“, wäre das eine schöne Bestätigung im 21. Jahrhundert.

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