HAYERS HORIZONTE

„Tár“ verstehe ich ganz anders

Die Kombination aus Intellekt und Eros tragen in Todd Fields fantastischem Film zum Verlust einer großen Sprache bei, nämlich der Musik.
Cate Blanchett: „best actress“-Preis für „Tár“
Foto: IMAGO/JIM RUYMEN (www.imago-images.de) | Cate Blanchett als „Lydia Tár“ in Todd Fields phänomenalem Film „Tár“: Aus einer Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker wird eine Wahnsinnige, die alles verlieren wird.

#Metoo, nur ganz anders, diesmal skandalöserweise mit einer mächtigen Frau als Täterin – so wurde Todd Fields phänomenaler Film „Tár“ von einem Großteil der Rezensenten verstanden (VGl. DT vom 9. März, S. 23). Nur wird man mit dieser zeitgemäßen Decodierung der komplexen Charakterstudie der exzentrischen Stardirigentin gerecht? Ich denke, dieses kinematografische Ausnahmewerk allein auf Machtfragen zu reduzieren, greift zu kurz, zumal von einigen Kritikern der entscheidende Konnex in der Gestaltung der Hauptfigur außer Acht gelassen wird, nämlich die verfluchte Dyade aus Intellekt und Eros.

Eine antike Tragödie und Hommage an die Macht der Musik

Es ist letzthin eine oft erzählte Geschichte, die auch den Hintergrund dieser Story bildet: Ein Genie, dessen Geist keine Grenzen kennt, wird Opfer seiner eigenen Triebe. Die bekanntesten Beispiele lauten Goethes Menschheitsdrama „Faust“, Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ oder auch Nabokovs „Lolita“. Sie alle erzählen von Denkern, deren Tragik allein in ihrer fehlenden körperlichen Selbstkontrolle besteht und die dadurch Schuld auf sich laden. So nun auch Lydia Tár (Cate Blanchett). Nachdem sie sich schon vor ihrem Posten als Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker einer Schülerin unbotmäßig genähert hat, woraufhin diese Selbstmord beging, holt sie nun die Vorgeschichte um Missbrauch ein. Sowohl ihre kleine Familie aus ihrer Partnerin (Nina Hoss) und einer adoptierten Tochter als auch ihre Karriere fallen wie ein Kartenhaus zusammen. Aus jener, die Mahlers 5. so traurig-schön wie einen heiligen Text exegiert, wird eine Wahnsinnige, die alles verlieren wird.

Geschieht ihr recht, denken wohl die meisten. Die Nemesis sorgt zumindest in der Fiktion für jene Gerechtigkeit, die sich, sieht man mal von Harvey Weinstein ab, für Opfer in der Realität leider nur selten einstellt. Aber, so fragte ich mich bereits im Kino: Warum habe ich mit diesem scheinbaren Unmenschen, der mit einer selbstgefälligen Abwehrgeste einem Kellner signalisiert, keinen Wein mehr nachzuschenken, Mitgefühl? Meine Antwort bezieht sich auf die Gefallene, die Künstlerin, die ihrer einzigen Sprache, mit der sie sich auch emotional ausdrücken kann, beraubt wird. Nachdem man sie ihres Amtes enthebt, gibt es eine ergreifende Schlüsselszene: Lydia sieht ein Video mit ihrem Vorbild Leonard Bernstein.

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Leidenschaftlich erklärt er den Menschen die Musik und die verlassene Zuschauerin, sie weint zum ersten Mal. Der Meisterkomponist sagt, was sie nicht mehr sagen kann. So lese ich den Film vor allem als eine antike Tragödie sowie eine Hommage an die Macht der Musik und mithin ihrer Interpreten, die ohne sie verzweifeln.

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