Das Anfang der 1990er-Jahre von Francis Fukuyama ausgerufene „Ende der Geschichte“ währte nicht lange. Spätestens seit Putins Überfall auf die Ukraine scheint nichts mehr undenkbar – und die Wehrpflicht ist zurück. Dabei fällt auf, was man sich schon vorher hatte denken können: nämlich, dass vielen überhaupt nicht der Sinn danach steht, für ihr Land zu kämpfen und womöglich zu sterben.
Staat? Ja bitte, wenn er mir nutzt
Der in diesem Jahr verstorbene Moralphilosoph Alasdair MacIntyre hat schon vor Jahren und Jahrzehnten immer wieder den Finger in diese Wunde gelegt. Seine, etwa 1997 in dem Essay „Politics, Philosophy and the Common Good“ vorgebrachte Überlegung: Der moderne liberale Staat vertritt ein individualistisches und minimalistisches Konzept des Gemeinwohls. Dieses Gemeinwohl besteht in der Summe der individuellen Interessen und Bedürfnisse seiner Bürger. Man könnte auch sagen: Der moderne liberale Staat bezieht seine Legitimität und Autorität daraus, dass er dem individuellen Vorteil seiner Bürger dient.
Das Problem nach MacIntyre: Ein solches Konzept lädt dazu ein, in Kosten-Nutzen-Kategorien zu denken, den eigenen Beitrag zu minimieren und den eigenen Vorteil zu maximieren. Sozial- und Steuerbetrug sind da nur die äußersten Formen ein- und derselben Logik des sozialen Trittbrettfahrertums rationaler Nutzenmaximierer. Die Bereitschaft, Opfer zu bringen oder sogar das eigene Leben zu riskieren, ist in einem solchen Modell überhaupt nicht vorgesehen und erscheint höchst irrational. Der Staat in diesem Sinne ist nichts weiter als eine Interessengemeinschaft, die nur insoweit trägt, wie dies die gemeinsamen Interessen tun.
MacIntyre selbst sprach wiederholt davon, dass der moderne liberale Staat in vielerlei Hinsicht gegenüber seinen Bürgern wie ein gigantisches Versorgungsunternehmen agiere. Die Frage, die er damit in den Raum stellt, könnte man heute pointiert vielleicht wie folgt formulieren: Wer wäre schon bereit, sein Leben für seinen Internetprovider hinzugeben? War die Wehrpflicht für junge Männer in den 1990er- und 2000er-Jahren maximal ein lästiger Störfaktor der eigenen Lebens- und Karriereplanung, so ist für viele junge Menschen die neue Diskussion um die Wehrpflicht zu einem Äquivalent eben dieser Frage geworden. Kämpfen und sterben, wo man auch auswandern kann? Eher nicht, für die politische Rechte ist das ein Resultat von Multikulturalismus und Antipatriotismus. Wehrfähigkeit setzt für sie Vaterlandsliebe und Nationalstolz voraus. Ob es gegen Russland oder die USA geht, steht auf einem anderen Papier.
MacIntyre sah das anders. Das „Volk“ – MacIntyre verwendet in dem oben genannten, englischsprachigen Essay hier tatsächlich das deutsche Wort – basierend allein auf gemeinsamen kulturellen Traditionen, ist für sich genommen nach MacIntyre vor- und unrational. Dem Vernunftwesen Mensch als zoon logikon kann das nicht genügen.
Keine Opferbereitschaft der Bürger
Das „Volk“, verstanden als eine reine Kultur- und Sprachgemeinschaft, wurde von MacIntyre so gesehen, wie die antiken Griechen auf die sie umgebenden Barbarenstämme blickten: Natürlich kann man sich als Mensch politisch in dieser Weise organisieren. Wahrhaft Mensch – das heißt ein vernunftbegabtes Lebewesen – kann man in einem solchen Gemeinwesen nicht sein. Und deshalb, so MacIntyre, kann ein solches Gemeinwesen, wie auch der moderne Staat, keine Grundloyalität verlangen. MacIntyre folgte Aristoteles darin, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Menschen als zoon logikon und zoon politikon zu sehen. Politikon meint hier aber nicht „politisch“ im heutigen Sinn, sondern ist für MacIntyre wie Aristoteles auf die Polis bezogen, nicht auf „Volk“ oder „Staat“ nach heutigem Verständnis.
Was macht eine solche Polis nach MacIntyre aus? Sicher setzt sie ein gemeinsames kulturelles Erbe und eine gemeinsame Sprache voraus. Hierin trifft sie sich mit dem „Volk“. Allerdings ist dies nur die Voraussetzung für die Polis, nicht ihr Wesen. Worin besteht dieses aber dann? Zunächst in einem gemeinsam geteilten Verständnis von Politik, nach dem diese nicht ein Teilbereich menschlicher Existenz ist, dem sich wenige Menschen professionell widmen, während die allermeisten höchstens zur Wahl gehen. Politik – das ist der Raum, in dem jeder Mensch seine Vernunftbegabung optimal entfalten und im rationalen Austausch mit anderen lernen kann, worin individuelles Wohl, Gemeinwohl und allgemein menschliches Wohl besteht. Nach MacIntyre setzt das sowohl ein kleinräumiges Gemeinwesen als auch den erwähnten gemeinsamen, sprachlich-kulturellen Hintergrund voraus. Ein solches Gemeinwesen kann von seinen Angehörigen erwarten, im Verteidigungsfall ihr Leben zu riskieren, um mit ihrem Lebensraum auch ihr wahres Menschsein zu verteidigen.
Der Geschichts- und Politikwissenschaftler ist Gründer und Leiter des Instituts für ganzheitliche Ökologie. Mit Frau und vier Kindern lebt er im Badischen.
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